NEUE KERAMIK 10/99

Gerd Reutter
Bausteine des Lebens

Die keramischen Plastiken von Gerd Reutter sorgen für Dreidimensionalität bis ins Kleinste Detail, betonen Licht-Schatten-Spiel und verleihen den Skulpturen den Eindruck einer Art „Unvollendetheit", eine ursprüngliche primitive Kraft. Diese verblüffend kleinen Konstruktionen sind Kleinplastiken, nicht weil sie klein oder Verkleinerungen sind, sondern weil sie ihre Realität nicht in der Wirklichkeit haben und nicht an wirklichen Gegenständen gemessen werden wollen.

Seine mit Architekturzitaten spielenden Skulpturen nehmen, aus der Distanz gesehen, die Illusionen von Bildern, von kleinen Bühnenbildern an. Vielleicht ist dieser Eindruck insofern nicht ganz falsch, als mit jenen Perspektivmitteln, welche Bühnenbildner in den Maquetten und selbst in der Ausführung ihrer szenischen Konstruktionen gebrauchen, Größen- und Raumverhältnisse vorgetäuscht werden, die nicht nachmeßbar sind, weil sie mit Augenbetrug rechnen.

Die Kleinheit und die Bemalung dienen nicht zum trompe l´oeuil, sondern die räumlich bedingte Verkleinerung des plastischen Gebildes unterstreicht ohne Bedeutungsverlust die ganzheitliche Bildidee. In der Vorstellung sind sie monumental.

Sie sollen niergendwo anders als quasi im Kopf des Betrachters und in der imaginären Welt der Kunstwerke existieren.

Ein wirkliches Entziffern gelingt wohl nur durch ein „erfühlendes" Sehen, das der Ton in seiner erdhaften Fragilität allerdings nur den Augen erlaubt. Die Assoziation „Miniaturbühne" lenkt in die falsche Richtung, wenn der Betrachter an einen architektonisch regelgeleiteten, funktionalen Aufbau denkt. Reutters Konstruktionen sind weder auf eine spezifische Absicht, noch auf vorformulierte Theorien und Ideen gegründet. Ihr Maßstab wird nicht errechnet, denn für ihn ist die Masse nicht von Bedeutung, wenn nur das Werk hält. Zwar gibt es die Präfiguration im Kopf des Plastikers, doch führen letztlich Experiment und Erfindung zu den endgültigen Skulpturen. „Ich verstehe mich als Modellierer. Mit den Händen forme ich und bin während der Arbeit voll konzentriert. Ton trocknet schnell. Bei beginn ist die Skulptur geistig im Kopf. Während der Gestaltung sagt mir der Ton, so geht es oder so geht es nicht. Nach Vollendung steht die Skulptur Tage im Trockenraum und wird dann gebrannt."(Reutter) Folglich enthält jede Suche ein Maß an Unvorhersehbarem, eine Art von Beunruhigung, ein Staunen nach der Vollendung, nach dem Abschluß der Arbeit.

Das Interesse liegt weniger beim geschlossenen Körpervolumen als vielmehr beim Phänomen der Abgrenzung und verflechtung eines Körpers in seinem Umraum. Die äußere „Schale" wird aufgerissen, das Licht führt den Blick nach innen. So beziehen seine Plastiken ihren Reichtum oft aus der Polarität massiv gebauter Elemente, die ein Innen umschließen und dank eines permanenten Gestaltwandels dem Bestehenden neue Facetten beisteuern können. Volumen wird dann nicht durch Masse erreicht, sondern mittels Gerüsten, Schranken und Wänden, die den Innenraum bilden und dergestalt auch die „Leere" zu einem positiv geladenen Element machen. Diese Probleme von Skulpturen werden jedoch nicht ausdrücklich formuliert, sondern ergeben sich eher beiläufig aus der jeweiligen Konstellation der einzelnen Formen.

Wenn so Reutters Gebilde meist etwas ruinös, fragmentarisch oder wie Fossilien aus längst vergangenen Zeiten wirken, so steht dahinter das künstlerische Diktum: Ein Prozeß der ständigen Zerstörung von Formen um neuer Formen willen - ein Verfahren der Destruktion als bedingung der Rekonstruktion. Zudem geht der Eindruck des Unfertigen immer einher mit einer Persiflage der Perfektion. Dennoch, gerade in diesen Momenten der scheinbaren Beiläufigkeit und Zufälligkeit, der scheinbaren Unfertigkeit, der Funktionslosigkeit manifestiert sich die „reflektierte Unbefangenheit" Reutters, so daß seine Tonplastiken eigentlich keine Wiederholung kennen. „Die Plastik wiederholt nicht, was wir kennen, sie ist selbst eine Sonde im Unbekannten", schrieb Gottfried Boehm. Das scheinbar Abstrakte und Bestimmbare von Raum und Zeit findet in den Formen eine Anschauung, weil durch diese für den Betrachter der Raum neu vermessen wird und eine kunstvolle Bestimmung findet. Der begriff des Plastischen bezieht sich nicht nur auf die Gattung Plastik, er nennt zugleich ein ausgezeichnetes Strukturmerkmal eines Kunstwerks überhaupt. In diesem Kontex steht bereits angedeutete Überzeugung, daß das, womit der Künstler umgeht, selber mit Fähigkeiten begabt ist, die der Kunst zugute kommen können.

Der Ton ist für Reutter kein bloßer toter Stoff. Der Ton hat für ihn eine eigene Gerichtetheit, eine eigene Energie, und dadurch gewinntdas Modellieren in der Arbeit ebenfalls eine eigene Qualität. Reutters Formen sind nie neutral, strikt geometrisch, flach, zeigen immer seine Handschrift und versuchen nie, das Ausgangsmaterial zu transzendieren. Auch die Farbgestaltung ist gegenüber der Ton-Form zweitrangig. „Ton ist mit das älteste Material, mit dem künstlerisch gearbeitet wurde. Ton mit den Händen zu formen, ist ein Erlebnis. Ton muß für mich auch nach der Fertistellung der Skulptur immer noch als Ton erkannt werden. Farbe an meinen Arbeiten ist für mich zweitrangig. Nach dem Schrühbrand bei 900 Grad färbe ich meine Skulpturen nur ganz leicht mit Engobe. Das istim Prinzip flüssiger Ton. Also Erdfarbe. Danach kommt ein zweiter Brand mit 1200 Grad." (Reutter)

Reutter läßt dem Betrachter seiner Kunst einen weiten Spielraum: Die Assozationen., die sich nicht zuletzt wegen der metaphorischen Titel einstellen, mögen in ganz verschiedene Richtungen ziehlen; eigentlich wäre es - ganz der Arbeitsweise gemäß - recht, wenn ein Werk seine Bedeutung von Mal zu Mal änderte. Bei ihrer allseitigen „Offenheit" bekommt man Reutters werke doch nie ganz zu fassen, seien es nun die tiefgreifenden Bezüge zu mythischer Archaik oder seien es Architekturzitate. Diese Skulpturen sind von großem Reichtum - als Formulierungen plastischer Anliegen zwischen raumgreifender und raumverdrängender Präsenz, zwischen spröder, profaner und kostbarer Materialbeschaffenheit, zwischen sakraler Entrücktheit und taktilem Oberflächenreiz, aber auch als narrativ eloquente Werke, die von der Verbindlichkeit vergangener Kulturen sprechen.