Katalog Gerd Reutter
2001 - 2003
SKULPTUREN

VORWORT

Im 1918 erschienenen "Geist der Utopie", mit dem Ernst Bloch das Panorama seines Lebenswerks entwirft, beginnt er mit der ästhetischen Chiffre des "alten Krugs": "das braune, ungeschlachte Gerät, fast ohne Hals. Mit wildem Männergesicht und einem bedeutenden, schneckenartigen, sonnenhaften Zeichen auf der Wölbung". Die "Selbstbegegnung" mit der Kunst wird nicht an einem formvollendeten Werk demonstriert, sondern an einem alten Tonkrug, einem bäuerlichen Gebrauchsgegenstand; "der alte Krug hat nichts Künstlerisches an sich, aber mindestens so müsste ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein, und das wäre allerdings schon viel."

Kunstwerke sind nach Bloch aufgehoben im Zeitlichen, sie verbinden Vergangenheit und Zukunft, bewahren die Erinnerung und sind "Vor-Schein" auf die Zukunft, der eigentlichen Bestimmung des Menschen, in die wir allerdings noch nicht eingetreten sind. Die Kunst probt die Möglichkeiten der Zukunft, sie antizipiert was in ihr offensteht und überschreitet damit die Gegenwart. Freiheit und Entfaltung der Phantasie sind ihre unabdingbaren Wesensmerkmale, offen muss deshalb das Kunstwerk sein, um auch den Rezipienten frei zu setzen. Dies verbindet die große Kunst mit dem alten Krug: "Die dauernde, neugierige Kinderfrage geht wieder auf. Denn der Krug ist dem Kindlichen nahe verwandt (...) wer den alten Krug lange genug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum... so, daß ich darum als mein Teil reicher, gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde." Die Selbstbegegnung mit der Kunst ist Selbstfindung.

Ton ist eines der ältesten künstlerisch gestalteten Materialien und nicht umsonst hat Bloch einen Tonkrug für den ersten Schritt der Selbstbegegnung mit der Kunst ausgewählt. Die archetypische Zeitlosigkeit verweist über die Gegenwart der artifiziellen Gestaltung hinaus, das Material selbst wird zum Bedeutungsträger, hat seine eigene Schwere, die es dem Künstler gegenüber zu bewahren weiß.

Gerd Reutters Zyklus "Ende und Wiederbeginn", der in der Ausstellung im Ernst-Bloch-Zentrum zum ersten Mal präsentiert wird, ist durch Bloch angeregt, ohne dass man die Nähe zum Philosophen überstrapazieren muss. Reutters Arbeiten sind ohne Pathos, sie bieten assoziative Offenheit und respektieren damit gewissermaßen den Freiraum des Betrachters. Die Sinnlichkeit, Unmittelbarkeit des Materials ist belassen, eingefasst in Rahmenkonstruktionen. Der Rahmen aber grenzt nicht ein, er führt weiter: Überschreitung eben. Und darum hat die Ausstellung Gerd Reutters ihren Platz im Ernst-Bloch-Zentrum.

Klaus Kufeld, Leiter des Ernst-Bloch-Zentrums
Peter Ruf, Ausstellungsleiter des Ernst-Bloch-Zentrums