Katalog Gerd Reutter
2001 - 2003
SKULPTUREN

Druckstellen 2001/02
Ton/Holz/Stahl 164x150x34,5 cm

EINFÜHRUNG

Anmerkungen zu den keramischen Plastiken
Manfred Fath

Gerd Reutter begann relativ spät, also erst Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, mit seiner künstlerischer Arbeit. Sein Material ist Ton, den er seither ausschließlich benutzt. Die Konzeption und die formale Ausführung seiner Plastiken sind immer von den materialspezifischen Eigenschaften des Tons bestimmt. In einem Statement sagte er zu seiner Vorliebe für dieses Material: "Ton ist das älteste Material, mit dem künstlerisch gearbeitet wurde. Ton mit den Händen zu formen, ist ein Erlebnis. Ton muss für mich auch nach der Fertigstellung der Skulptur immer noch als Ton erkannt werden." Die technischen Voraussetzungen für den Umgang mit diesem Material vermittelte ihm der Keramiker Klaus Lehmann, der Gerd Reutter auch darin bestärkte, seine plastischen Vorstellungen zu realisieren, ohne sich an irgendwelchen Vorbildern zu orientieren. Reutter sagte dazu: "Er lenkte mich, ließ mich aber stets frei entfalten."

Mit seinen keramischen Plastiken steht Gerd Reutter in einer künstlerischen Tradition, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Ton von den Bildhauern vorwiegend als Material zur Herstellung kleiner Modelle benutzt. Auguste Rodin z. B. schuf seine Skulpturen in der Regel als kleine Tonmodelle, die dann von Mitarbeitern vergrößert und in den gewünschten Materialien ausgeführt wurden. Erst im 20. Jahrhundert gewann Ton als gleichwertiges Material neben den überkommenen traditionellen Werkstoffen an Bedeutung Im 20. hat sich Jahrhundert die Arbeitsweise der Bildhauer verändert. Die Künstler beschränkten sich nicht mehr nur auf die Herstellung von Tonmodellen, sondern führten ihre Werke nun in der Originalgröße eigenhändig aus. Die Faszination, die der Ton auf die Künstler ausübte, rührt wohl daher, dass er der Werkstoff mit den geringsten materialbedingten spezifischen Eigenschaften ist. Wegen seiner fast unbegrenzten Formbarkeit beeinträchtigt er kaum den künstlerischen Ausdruckswillen und seine formale Umsetzung. Die Frische des leicht zu formenden Materials erlaubt sowohl das Modellieren figürlicher und ungegenständlicher Formen als auch die Montage oder die serielle Reihung aus Einzelformen. Auch die Behandlung der Oberflächen eröffnet den Künstlern eine Vielzahl von Möglichkeiten. Sie reicht von der Bemalung, von der Glasur bis hin zu den unterschiedlichsten Reliefierungen. Ton ist ein Material, für das von vornherein "keinerlei Schönheit oder Ausdruck" charakteristisch ist, wie die Bildhauerin Alicia Penalba ihre Vorliebe für dieses Material begründete. Diese Eigenschaft lässt es ihrer Meinung nach für figurative, expressive oder konstruktiv-minimalistische Formen gleichermaßen geeignet erscheinen.

In Frankreich z. B. hat Henri Laurens zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts kubistische Reliefs und Skulpturen aus gebranntem roten Ton geschaffen, die in kleinen Auflagen hergestellt wurden. In Deutschland hat Max Laeuger in der Mitte der zwanziger Jahre Werke geschaffen, in denen er Malerei und Plastik zu einer Synthese führte, um so Wirkungen zu erzielen, "wie sie weder die Plastik allein, noch die Malerei allein erreichen kann." Damit gehört er zu den Begründern der "Keramischen Kunst" wie der Titel seines 1939 erschienen Handbuchs lautet. Einen wichtigen Beitrag zur Etablierung der keramischen Plastik als eigenständige Kunstform leistete auch Pablo Picasso mit seinen keramischen Arbeiten, die nach 1946 in Vallauris entstanden sind. Sie bilden einen genuinen Teil seines vielgestaltigen Werkes. Er benutzte den Werkstoff Ton, um völlig eigenständige und phantasievolle plastische Werke zu schaffen und emanzipierte damit die keramische Plastik zu einer eigenen Kunstform.

Im vergangenen Jahrhundert hat eine erstaunliche große Zahl von Künstlern keramische Plastiken geschaffen, wie in der jüngsten Vergangenheit eine Reihe von Ausstellungen, u a. 1990 in der Kunsthalle Mannheim, zu diesem Thema vor Augen geführt hat. Überblickt man die große Zahl der Werke, die in den letzten Jahrzehnten aus diesem Werkstoff entstanden sind, findet man Objekte von einer erstaunlichen technischen und formalen Vielfalt. Die Vielzahl der Materialvarianten und Techniken, die von niedrig gebrannter Irdenware über Raku und Steinzeug bis hin zu Porzellan reichen, überrascht ebenso wie die farbigen und formalen Gestaltungen. Formal reicht das Spektrum von aufgebauten und frei modellierten figürlichen Skulpturen zu informellen Plastiken, konstruktiven oder minimalistischen Montagen, architektonisch gebauten Plastiken und Rauminstallationen oder Objekten, die Keramik mit anderen Materialien kombinieren. Damit spiegelt die keramische Plastik den gleichen Pluralismus, der auch die Kunst der Gegenwart kennzeichnet. Die einzige materialbedingte Einschränkung scheint in der Größe zu bestehen, die durch die zur Verfügung stehenden Brennöfen vorgegeben wird.

Gerd Reutter steht mit seinen keramischen Plastiken also in einer langen und bedeutenden Tradition, in der er sich in den vergangenen Jahren eine eigenständige Position geschaffen hat. Seit dem Beginn der neunziger Jahre hat er ein vielgestaltiges und eindrucksvolles Werk von erstaunlicher formaler Spannweite geschaffen. Als Material für seine Plastiken dient ihm bevorzugt grob schamottierter Ton, wie er für Baukeramiken benutzt wird. Ihn fasziniert die raue offenporige Oberfläche dieses Materials, das seinen Charakter auch durch das sparsame Einfärben mit erdfarbigen Engoben nicht verändert. Werner Marx führte in einem Text über Gerd Reutters Vorliebe für Ton aus: "Der Ton hat für ihn eine eigene Gerichtetheit, eine eigene Energie, und dadurch gewinnt das Modellieren in der Arbeit ebenfalls eine eigene Qualität."

Als Ausgangsformen dienen Gerd Reutter flache oder gerollte Tonplatten, aus denen er seine Plastiken gewissermaßen konstruierend aufbaut. Mit dieser Technik, die kein spontanes Arbeiten erlaubt, eröffnet sich der Künstler ein breites Spektrum formaler Möglichkeiten, die von streng gebauten Formen, die an Architekturen oder ruinenhafte Architekturfragmente erinnern, bis zu organisch bewegten reichen. In einem Statement sagte er zu seiner Arbeitsweise: "Ich verstehe mich als Modellierer. Mit den Händen forme ich und bin während der Arbeit voll konzentriert. Ton trocknet schnell. Bei Beginn ist die Skulptur geistig im Kopf. Während der Gestaltung sagt mir der Ton, so geht es oder so geht es nicht. …"

Gerd Reutter geht bei fast allen seinen Arbeiten von gegensätzlichen, dualen Prinzipien aus. Er arbeitet mit kontrastierenden Gestaltungsprinzipien wie Statik und Labilität, Offenheit und Geschlossenheit, abstrakten und gegenständlichen Formen oder Formfragmenten, Fläche und Raum. Zentrales Thema seiner Arbeiten ist dabei die Auseinandersetzung mit räumlichen Problemen und dies ist wohl auch der Grund seiner Vorliebe für Motive, die Architekturformen assoziieren. Sie wirken häufig unvollendet oder ruinenhaft. Flächige Elemente kontrastieren mit Volumen, Hohlräume werden gegen offene Raumbegrenzungen gesetzt, Innenräume gegen Außenräume. Ganz bewusst rhythmisiert Gerd Reutter diese Elemente durch Kontrastierungen so, dass differenzierte räumliche Gebilde entstehen. Jochen Kronjäger hat in einer Interpretation der Plastik "Einstieg / Ausstieg" aus dem Jahr 1997 darauf hingewiesen, dass Gerd Reutters architekturbezogene Arbeiten durch die "Ambivalenz zwischen imposanter Monumentalität und vertrauter Dimensionalität" charakterisiert seien. Dadurch lösen diese Arbeiten beim Betrachter sehr unterschiedliche Assoziationen aus, die durch die offenen Titel, die der Künstler seinen Arbeiten gibt, noch zusätzlich gestützt werden.

Große Sorgfalt legt Gerd Reutter auf die Modellierung der Oberflächen seiner Plastiken. Das Material wird selten geglättet. Vielmehr zeigt er ganz bewusst die Spuren der Bearbeitung, die bei der Modellierung der einzelnen Elemente seiner Plastiken entstehen, um so das Entstehen seiner Plastiken als Prozess sichtbar zu machen. Durch dieses Gestaltungsprinzip entsteht ein nuancenreiches Spiel des Lichtes, das das Volumen der Körper betont und Räumlichkeiten definiert. Bei seinen Skulpturen verzichtet er weitgehend auf farbige Fassungen. Lediglich erdfarbene Engoben werden eingesetzt, die wie eine transparente Patina wirken.

Überblickt man die Arbeiten Gerd Reutters, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind, kann man feststellen, dass sie sich in einem Spannungsfeld von streng gebauten architektonischen Plastiken und freien, expressiven Formen bewegen. Immer wieder bewegen ihn räumliche Probleme, beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von innerer und äußerer Form, von Innen und Außen. Damit setzt er sich mit einem der zentralen Themen zeitgenössischer Plastik auseinander. Gerd Reutter hat für seine Auseinandersetzung mit räumlichen Problemen sehr unterschiedliche Formen gefunden. So assoziiert z. B. die Plastik "Ende und Wiederbeginn" aus dem Jahr 2002 eine aufgebrochene Frucht und zeigt so interessante Bezüge zwischen Innen und Außen auf. Sie besteht aus einer ovalen Schale, die zur Hälfte geöffnet ist und Einblick in das Innere er Plastik mit seinen expressiv bewegten Formen erlaubt. Angeregt wurde er zu dieser Plastik durch die Lektüre des Buches "Universum in der Nussschale" von Stephen Hawkins und in der Tat erinnert das Innere der Arbeit auch an die bewegte Strukturen einer Nuss. Im gleichen Jahr ist die Plastik "Open End" entstanden, die an eine von frei und unregelmäßig geformten Pfeilern umstandene offene Halle erinnert. Hier korrespondiert der umschlossene Innenraum mit dem Außenraum und eröffnet Durch- und Einblicke, durch die der Innen- mit dem Außenraum korrespondiert. In der 2002 entstandenen Plastik "Dresden" ordnet Gerd Reutter auf einer rechteckigen Sockelplatte frei modellierte Formen an, die an Möbel - Sessel und Sofa erinnern und setzt sie zueinander in einen räumlichen Bezug. Diese drei Arbeiten verdeutlichen, mit welch unterschiedlichen formalen Ansätzen Gerd Reutter die Korrespondenz von Innen- und Außenraum gestaltet und dabei zu überzeugenden plastischen Lösungen kommt.

Seit 2001 entsteht eine neue Werkgruppe im Schaffen Gerd Reutters, bei der er plastische Formen in Holzkästen anordnet. Für die 2000/2001 entstandene dreiteilige Skulptur "Druckstellen" wählt er die traditionelle religiöse Hoheitsform des Triptychons. Im leicht erhöhten Mittelteil erscheint eine aus Röhrenelementen aufgebaute Form, die sich nach oben verjüngt. Sie erinnert in ihrem formalen Aufbau an eine abstrahierte menschliche Figur. Im rechten Seitenflügel wird der blockartige Sockel in seinen Dimensionen durch vier Metalldrähte bis zur Oberkante des Kastens nur durch die Andeutung seines Umrisses weitergeführt. Der linke Kasten ist durch vertikal und horizontal geschichtete kubische Elemente mit leicht strukturierter Oberfläche ausgefüllt. Auch an dieser Arbeit zeigt sich, wie Gerd Reutter immer wieder neue Ansätze für seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von plastischer Form und umgebenden Raum findet. Etwa gleichzeitig mit diesem Triptychon entstand das Relief "Schichten", in dem Gerd Reutter in einem Kasten mit sieben vertikalen Unterteilungen unterschiedlich geformte und verschiedenfarbige plastische Formen anordnet. Streng geformte kubische Elemente erscheinen neben differenziert modellierten, die figürlichen, aber auch architektonischen Charakter haben. In der vertikalen Reihung der unterschiedlich modellierten plastischen Formen erinnert diese Plastik an ein Lager. Ähnliches lässt sich auch von der 2003 entstandenen Wandplastik "Lücken" sagen, in der der Künstler in sechs Feldern unterschiedlich große frei modelliert Elemente aus kubischen Grundformen anordnet. Nur die quadratische Form im Zentrum des Reliefs zeigt eine Oberflächenmodellierung aus konzentrischen Kreisen.

Die wenigen Beispiele, die hier eingehender beschrieben wurden, verdeutlichen die formale Spannweite, die das Werk Gerd Reutters charakterisiert. Zugleich zeigen sie, mit welch unterschiedlichen plastischen Lösungen der Künstler das Verhältnis von plastischer Form und Raum untersucht und gestaltet. Er hat dafür überzeugende und eigenständige Lösungen gefunden, die ihm einen besonderen Rang unter den Künstlern zukommen lassen, die sich mit keramischen Plastiken beschäftigen.

Prof. Dr. Manfred Fath
1982-2002 Direktor der Kunsthalle Mannheim