Katalog Gerd Reutter |
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Architektonische
Elemente wie Pfeiler, Säulen, Bögen, Treppen sind in Gerd Reutters
Skulpturen nicht selten, doch wohl keine greift so dezidiert architektonisches
Formgut auf wie die 2003 entstandene Arbeit "Aufstieg". Eine
Wendeltreppe mit flachen, unregelmäßigen Stufen windet sich
um einen kräftigen Pfeiler und endet nach einer mehr als halben Drehung
abrupt, allerdings nicht im Leeren. Um den spiralförmigen Aufwärtsdrang
zu stoppen und der Skulptur Spannung zu verleihen, hat Reutter ein kleineres,
ebenfalls treppenartiges Teil mit kantigen Stufen oben auf gesetzt. Die
Vorderseite dieser steilen Treppe - ein Abfall- bzw. Fundstück, wie
Reutter erklärt - wird durch ein hell engobiertes Formteil gebildet,
das wie roh behauenes Mauerwerk über dem Abgrund schwebt: es stört
und irritiert. Wie das singuläre Relikt eines alten Gebäudes
- einer Kirche oder eines Schlosses - wirkt diese Arbeit fragmentarisch
und ruinös, sie scheint herausgelöst aus einem größeren
Zusammenhang, monumental in der Erscheinung, klein in den Ausmaßen.
Gleichzeitig steht sie für sich als isolierte Formfindung, als ein
Zeichen auch für die Erfahrungen menschlicher Existenz, des Strebens
nach Fortschritt, nach religiöser Erfüllung, aber letztlich
auch des Scheiterns. Natürlich kommen dem Betrachter kunsthistorische
Beispiele in den Sinn, denn die sich ins Unendliche fortsetzende Spirale
war Künstlern zu allen Zeiten aussagekräftige Symbolform, man
denke etwa an Hermann Obrists (1863-1927) spiralig aufsteigende Denkmalsform
von 1902 oder an Wladimir Tatlins (1885-1953) Denkmal-Modell für
die III. Internationale von 1920 oder aber - in der Architektur - an die
von Leonardo da Vinci (1452-1519) entworfene doppelläufige Treppe
im Schloss Chambord. Konstruktion und Zufall, Harmonie und Störung, Einheit und Teilung, Bewegung und Stillstand: Reutters Skulptur vereinigt Gegensätze, sie irritiert und stellt letztlich nicht nur die Frage nach der formalen Gültigkeit und Aussagekraft architektonischer Grundelemente, sondern auch die der narrativen Wirkung derselben. Dr. Inge
Herold, |
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Ton ist das ursprünglichste
plastische Material, das der Mensch formend verwenden kann. Plastisches
Arbeiten ist wie der Versuch einer Wiederholung des Schöpfungsaktes.
Die Weichheit des Tons, der sich direkt unter der Einwirkung der Hände
formt und Gestalt annimmt, bleibt auch bei dem fertig gearbeiteten und
gebrannten Werk sichtbar. Die Arbeit Druck von Außen vermittelt
selbst bei der in Bronze gegossenen Form den weichen, aber auch spröden
Charakter des ursprünglich verwendeten Materials. Das Werk mit
seiner mächtigen, körperlichen Präsenz wirkt aus einer
Spannung zwischen Härte und Formbarkeit, zwischen Verharren und
Nachgeben. Dr.Thomas
Köllhofer | |||
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Die
Schöpfung: Am sechsten Tag schuf Gott die Tiere und am Ende ihrer
Gestaltwerdung den Menschen, sie alle beherrschend, nach seinem Bild.
Doch der Mensch war verdorben und gewalttätig, so vertilgte Gott
von dem Erdboden, was er gemacht hatte. Die neue Welt: Alleine Noah fand in den Augen des Herrn Gnade und seine Gottergebenheit rettete Mensch und Tier vor der Vernichtung. Ein zweites Leben begann. Zurück blieb der Regenbogen als Zeichen des Bundes zwischen Mensch und Gott. Ein Lichtzeichen der Zuversicht und der Erinnerung nach der Sintflut. "Ende und Wiederbeginn"
sind der Titel und das Thema der Ausstellung, die Gerd Reutter seinen
in den letzten zwei Jahren aus Ton entstandenen Skulpturen gegeben hat.
Unter ihnen "Arca" (2003), eine archaisch anmutende, geöffnete
Kiste, ein fragmentierter architektonischer Raumkörper, in den
der Blick hineingesogen wird. Ein geschlossener Raum - ein uneinsehbarer,
geheimnisvoller Ort - ist diesem sich nach unten verjüngenden Kasten
an einer inneren Seitenwand eingestellt. Obschon nach oben geöffnet,
verschatten zwei auf unterschiedlicher Höhe eingefügte Abschlussfragmente
den Innenraum leicht. Die eine hindert den neugierigen von oben hineinschauenden
Blick, die andere lädt gleichsam als Trittbrett ein, sich in das
Innere hineinzubegeben. Ganz nebenbei, aber doch bestimmt weist die
Dreigliederung der Seitenwände darauf hin, was hier in einer zeichenhaften
Neuaneignung von Gert Reutter gezeigt wird: "Mache Dir einen Kasten
von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech inwendig
und auswendig. Und mache ihn also: 300 Ellen sei die Länge, 50
Ellen die Weite und 30 Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran
machen obenan, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in
seine Seite setzen. Und er soll drei Boden haben: einen unten, den andern
in der Mitte, den dritten in der Höhe. Denn siehe, ich will eine
Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden (...)." (1. Mos. 6,
14 ff.) Dr. Rainer
Lawicki | |||
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Wie lang ist die Küste
Britanniens? Diese Frage ist fast schon zu einem Leitmotiv der Beschäftigung
mit jenen seltsamen geometrischen Gebilden geworden,die unter dem Namen
Fraktale in den letzen Jahren Einzug in viele Naturwissenschaften gehalten
haben. Bekannt geworden sind sie durch die englische Ausgabe des Buches
ihres Namensgebers, Benoit Mandelbrot, das unter dem Titel "Die
fraktale Geometrie der Natur" auf deutsch erschienen ist. Die Grundidee
Mandelbrots ist, die Unregelmäßigkeit, Zersplitterung oder
Verzweigtheit vieler in der Natur beobachteter Formen, wie Küstenlinien,
Wolken, Baumrinden, Blätter oder Blitze als Naturprinzip zu betrachten
und sie nicht als "formlos" oder "amorph" beiseite
zu lassen, wie er dies der klassichen geometrischen Sichtweise Euklids
vorwirft. In dieser Richtung möchte ich das das Großrelief
von Gerd Reutter interpretieren. In dem Spannungsfeld von Individualität
und Raster werden Ordnungswahrnehmung und einzigartige Gestalt im gleichzeitigen
Wahrnehmungsakt thematisiert. Jedes Einzelteil ist wie gesagt autonom,
gleichzeitig aber Ausschnitt einer ganzen Wand- oder Raumkonzeption
und wird zudem im Laufe der Zeit seine Gestalt noch permanent verändern,
ohne jedoch die Ordnungsstruktur aufzuheben. Werner Marx | |||
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Die
135 cm lange, nur 14 cm tiefe, zudem flach gehaltene Skulptur vermittelt
spontan den Eindruck einer archäologischen Trouvaille: Sie wirkt
wie ein herausgetrenntes Terrassenstück aus den Hängen der hoch
in den Anden gelegenen, um 1450 gegründeten heiligen Inka-Metropole
Machu Picchu. Zu ihr schreibt der Brockhaus: "Da in Terrassenbautechnik angelegt, fanden die vielen heiligen Bezirke, Plätze und Wohnbereiche ... auf engstem Raum Platz." In Reutters Skulptur ist tatsächlich ebenfalls eine solche architektonisch-inhaltliche Verdichtung intendiert. Beginnend an dem von zwei pfeilerähnlichen Wangen flankierten, hochgelegten Absatz einer Treppe führen Stufen hinab auf eine Fläche, die der Höhe des Bodenniveaus entspricht. Diese Fläche führt zu einem flachgedeckten Schutzraum, der seinerseits zu einer niedrigen, grundrissähnlichen Aufschüttung mit tiefen, rechteckförmigen Einschnitten überleitet - auf unheimliche Weise suggeriert dieser Abschnitt eine Opfergrube. Es folgt wiederum eine Fläche, an deren Ende ein annähernd quadratischer, rahmenähnlicher Raumkörper steht, aus dem eine eingepasste Kugel herausragt. Die Skulptur hat unbestreitbar kultischen Charakter. Allein die Wangen zu Beginn der Treppe implizieren ein Leitsystem, durch das - wie durch eine Kimme - Lichtstrahlen auf die Kugel am Ende der Skulptur projiziert werden. Auch hier könnte wieder die Geschichte der Inkas eine Rolle spielen: Seit ca. 1450 wechselte deren Religion von der Vorstellung eines Schöpfungsgottes zu jener eines Sonnengottes, für den entsprechende Kultstätten zur Verehrung geschaffen wurden. Durch ihre beachtliche Größe musste die Skulptur in vier Teilen gebrannt werden - die sichtbare Addition ihrer Elemente betont zusätzlich den archäologischen Charakter dieses Werkes Gerd Reutters, d.h. eines in seinen Fragmenten existierenden harmonischen Ganzen. Dr. Jochen
Kronjäger |