Katalog Gerd Reutter
2001 - 2003
SKULPTUREN

Aufstieg, 2003
Ton 43x42x36 cm
Architektonische Elemente wie Pfeiler, Säulen, Bögen, Treppen sind in Gerd Reutters Skulpturen nicht selten, doch wohl keine greift so dezidiert architektonisches Formgut auf wie die 2003 entstandene Arbeit "Aufstieg". Eine Wendeltreppe mit flachen, unregelmäßigen Stufen windet sich um einen kräftigen Pfeiler und endet nach einer mehr als halben Drehung abrupt, allerdings nicht im Leeren. Um den spiralförmigen Aufwärtsdrang zu stoppen und der Skulptur Spannung zu verleihen, hat Reutter ein kleineres, ebenfalls treppenartiges Teil mit kantigen Stufen oben auf gesetzt. Die Vorderseite dieser steilen Treppe - ein Abfall- bzw. Fundstück, wie Reutter erklärt - wird durch ein hell engobiertes Formteil gebildet, das wie roh behauenes Mauerwerk über dem Abgrund schwebt: es stört und irritiert. Wie das singuläre Relikt eines alten Gebäudes - einer Kirche oder eines Schlosses - wirkt diese Arbeit fragmentarisch und ruinös, sie scheint herausgelöst aus einem größeren Zusammenhang, monumental in der Erscheinung, klein in den Ausmaßen. Gleichzeitig steht sie für sich als isolierte Formfindung, als ein Zeichen auch für die Erfahrungen menschlicher Existenz, des Strebens nach Fortschritt, nach religiöser Erfüllung, aber letztlich auch des Scheiterns. Natürlich kommen dem Betrachter kunsthistorische Beispiele in den Sinn, denn die sich ins Unendliche fortsetzende Spirale war Künstlern zu allen Zeiten aussagekräftige Symbolform, man denke etwa an Hermann Obrists (1863-1927) spiralig aufsteigende Denkmalsform von 1902 oder an Wladimir Tatlins (1885-1953) Denkmal-Modell für die III. Internationale von 1920 oder aber - in der Architektur - an die von Leonardo da Vinci (1452-1519) entworfene doppelläufige Treppe im Schloss Chambord.
Konstruktion und Zufall, Harmonie und Störung, Einheit und Teilung, Bewegung und Stillstand: Reutters Skulptur vereinigt Gegensätze, sie irritiert und stellt letztlich nicht nur die Frage nach der formalen Gültigkeit und Aussagekraft architektonischer Grundelemente, sondern auch die der narrativen Wirkung derselben.

Dr. Inge Herold,
Kunsthalle Mannheim

Druck von Außen, 2003
Bronze 44x43x32

Ton ist das ursprünglichste plastische Material, das der Mensch formend verwenden kann. Plastisches Arbeiten ist wie der Versuch einer Wiederholung des Schöpfungsaktes. Die Weichheit des Tons, der sich direkt unter der Einwirkung der Hände formt und Gestalt annimmt, bleibt auch bei dem fertig gearbeiteten und gebrannten Werk sichtbar. Die Arbeit Druck von Außen vermittelt selbst bei der in Bronze gegossenen Form den weichen, aber auch spröden Charakter des ursprünglich verwendeten Materials. Das Werk mit seiner mächtigen, körperlichen Präsenz wirkt aus einer Spannung zwischen Härte und Formbarkeit, zwischen Verharren und Nachgeben.
Ein kräftiger, stark durchfurchter Mittelstrang, der nach oben in flachen Spitzen ausläuft, wird seitlich von zwei massigen "Flügeln" flankiert. Alle Einzelteile bedingen sich gegenseitig. Das Mittelteil scheint aus dem Druck der Außenseiten erwachsen zu sein, während die beiden seitlich sich anfügenden Elemente wie Lungenflügel am Mittelstrang hängen. Tiefe Furchen sind wie Falten als Spuren einer durchlebten Geschichte in alle Teile eingegraben. Druck von Außen hat einen biomorphen, organoiden Charakter, der die Assoziationen eines Körpers - aus einigen Ansichten entsteht der Eindruck eines nach vorne gekrümmten Oberkörpers - evoziert und oder aber den Eindruck eines unter hoher Krafteinwirkung entstandenen geologischen Gefüges. Ob Gesteinsformation oder organoide Form, die Arbeit strahlt lebendige Körperlichkeit aus, in welcher die Zeit ihre Spuren eingegraben hat. Trotz der Erinnerung an Dingliches, an bekannte Formelemente aus unserer Erlebniswelt verselbständigen sich in der Plastik Reutters die Formen und lassen ein autonomes und doch scheinbar zwingend so seiendes Gefüge entstehen.

Dr.Thomas Köllhofer
Kunsthalle Mannheim

Arca, 2003
32x43x28 cm
Die Schöpfung: Am sechsten Tag schuf Gott die Tiere und am Ende ihrer Gestaltwerdung den Menschen, sie alle beherrschend, nach seinem Bild. Doch der Mensch war verdorben und gewalttätig, so vertilgte Gott von dem Erdboden, was er gemacht hatte.
Die neue Welt: Alleine Noah fand in den Augen des Herrn Gnade und seine Gottergebenheit rettete Mensch und Tier vor der Vernichtung. Ein zweites Leben begann. Zurück blieb der Regenbogen als Zeichen des Bundes zwischen Mensch und Gott. Ein Lichtzeichen der Zuversicht und der Erinnerung nach der Sintflut.

"Ende und Wiederbeginn" sind der Titel und das Thema der Ausstellung, die Gerd Reutter seinen in den letzten zwei Jahren aus Ton entstandenen Skulpturen gegeben hat. Unter ihnen "Arca" (2003), eine archaisch anmutende, geöffnete Kiste, ein fragmentierter architektonischer Raumkörper, in den der Blick hineingesogen wird. Ein geschlossener Raum - ein uneinsehbarer, geheimnisvoller Ort - ist diesem sich nach unten verjüngenden Kasten an einer inneren Seitenwand eingestellt. Obschon nach oben geöffnet, verschatten zwei auf unterschiedlicher Höhe eingefügte Abschlussfragmente den Innenraum leicht. Die eine hindert den neugierigen von oben hineinschauenden Blick, die andere lädt gleichsam als Trittbrett ein, sich in das Innere hineinzubegeben. Ganz nebenbei, aber doch bestimmt weist die Dreigliederung der Seitenwände darauf hin, was hier in einer zeichenhaften Neuaneignung von Gert Reutter gezeigt wird: "Mache Dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig. Und mache ihn also: 300 Ellen sei die Länge, 50 Ellen die Weite und 30 Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran machen obenan, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in seine Seite setzen. Und er soll drei Boden haben: einen unten, den andern in der Mitte, den dritten in der Höhe. Denn siehe, ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden (...)." (1. Mos. 6, 14 ff.)
Auch wenn ein Geheimnis nun gelüftet zu sein scheint, der geheimnisvolle offene Kasten (lat. arca) ist mehr als die Umsetzung einer als Urmodell aus vorhistorischer Zeit geretteten Arche. "Arca" ist ein im wahrsten Sinne des Wortes offener Behälter für Ideen, der sowohl die plastische Gestaltungsvielfalt behandelt als auch den Weg einer symbolischen Weltdeutung beschreitet.

Dr. Rainer Lawicki
Kunsthalle Mannheim

Schichten 2002/03
Ton/Holz/Stahl
103x200x17cm

Wie lang ist die Küste Britanniens? Diese Frage ist fast schon zu einem Leitmotiv der Beschäftigung mit jenen seltsamen geometrischen Gebilden geworden,die unter dem Namen Fraktale in den letzen Jahren Einzug in viele Naturwissenschaften gehalten haben. Bekannt geworden sind sie durch die englische Ausgabe des Buches ihres Namensgebers, Benoit Mandelbrot, das unter dem Titel "Die fraktale Geometrie der Natur" auf deutsch erschienen ist. Die Grundidee Mandelbrots ist, die Unregelmäßigkeit, Zersplitterung oder Verzweigtheit vieler in der Natur beobachteter Formen, wie Küstenlinien, Wolken, Baumrinden, Blätter oder Blitze als Naturprinzip zu betrachten und sie nicht als "formlos" oder "amorph" beiseite zu lassen, wie er dies der klassichen geometrischen Sichtweise Euklids vorwirft. In dieser Richtung möchte ich das das Großrelief von Gerd Reutter interpretieren. In dem Spannungsfeld von Individualität und Raster werden Ordnungswahrnehmung und einzigartige Gestalt im gleichzeitigen Wahrnehmungsakt thematisiert. Jedes Einzelteil ist wie gesagt autonom, gleichzeitig aber Ausschnitt einer ganzen Wand- oder Raumkonzeption und wird zudem im Laufe der Zeit seine Gestalt noch permanent verändern, ohne jedoch die Ordnungsstruktur aufzuheben.
Dieses in Sequenzen und Serien vorherrschende Prinzip der geordneten Wiederholung von gleichartigen Elementen kann der veranschaulichenden Formengebung verschiedenster Ideen dienen. Es nutzt die Spannung zwischen der Dingwahrnehmung und der Ordnungswahrnehmung auf zweifache Weise. Zum einen wird unter Betonung der ordnenden Struktur die Sinnbedeutung des einzelnen Elementes außer Kraft gesetzt und so für darüberhinausweisende Erfahrungen freigemacht. Dies geschieht, weil mit der Wahrnehmung jedes Einzelelementes keine wesentlich andere, als die ohnehin schon erwartete Information verbunden ist, und also nichts Neues mitgeteilt wird. Diese Redundanz ermöglicht es, das Wahrgenommene durch eigene Vorstellungen zu ergänzen. Zum anderen kann durch das Serielle auch die Wahrnehmung des Einzelelements betont werden, wenn es leicht aus der Ordnung gerückt wird. Vor allem ist die Beschreibung des Seriellen zunächst ein sprachliches Problem, da zwischen Redundanz und Besonderem changiert wird.
Stichwort Spurensicherung: Die neuesten Arbeiten von Gerd Reutter lassen sich unter diese Kategorie einordnen, zeigen sie doch Schichtungen von ungebranntem Ton, angeordnet wie in einem Naturkundemuseum. Das künstlerische Vorgehen der "Spurensicherung" ist dem der Ethnologie bzw. der Archäologie nicht unähnlich, es erfaßt sowohl konkrete zeitliche Ablagerungen - das Äußere also - wie innere Tiefenschichten. Charakteristisch ist eine systematische, quasi "wissenschaftliche" Dokumentation: Inventare, Klassifikationssysteme, Aufbereitung des Materials wie in Museen (z.B. wie in Schaukästen von Naturkundesammlungen). Die Dokumentation ist dabei zugleich planmäßig wie intuitiv, die "Wissenschaftlichkeit" natürlich Tarnung und Taktik. Der Künstler ist nicht an objektiver Wiedergabe interessiert, sondern zieht sich hinter die Anonymität des Forschers zurück, um den persönlichen Ansatz desto präziser auszuarbeiten. Die unterschiedlichen Mittel werden eingesetzt und zu komplexen Werken, ja ganzen Werklandschaften verbunden, die die allgemeine Kunst- und Kultursituation reflektieren.
Diese neuen Reliefs von Gerd Reutter sind ausgesprochen spannungsvoll, da trotz der Suggestion eines Systems im Aufbau nie der Eindruck einer mathematisch begründeten Gesetzmäßigkeit entsteht, sondern der immer intuitiv erspürten Verhältnisse. Die Außen- oder Innenkanten der Tonstücke werden nicht nur als Konturen, sondern als Linien gesehen, denen das Auge zu folgen gezwungen wird, und die wesentlich für die Spannungen, Gewichtungen und Balancen innerhalb der Objekte verantwortlich sind. Von den unterschiedlichen Neigungen der Diagonalen und der Offenheit oder Geschlossenheit der Winkel hängt es ab, ob sich die Elemente den Geraden oder anderen Linien in den Reliefs Gewicht auffangend "entgegenlehnen" oder Gewicht abgebend an- bzw. auflehnen. Die Kommunikation der Elemente entsteht aus dem Verhältnis unterschiedlicher Winkel der Außenkanten zueinander, deren Länge und den "Gewichten" der Flächen, die von deren Ausdehnung abhängen. Alle drei Bestandteile bedingen sich wiederum gegenseitig. Keiner der Winkel und keiner der gewählten Längen einer Geraden erweckt den Eindruck der zufälligen Setzung. Vielmehr vermittelt jeder Umbruch einer Linie und das dadurch bedingte Breiter- oder Schmalerwerden der Form eine absolute Notwendigkeit, um ein auf einer höchsten energetischen Spannung gehaltenes Gleichgewicht zu erhalten. Das gelungene Austarieren der Kraftfelder in den Werken erzeugt immer den Eindruck einer dynamisierten Stabilität und Ruhe. Nicht das kleinste Detail scheint veränderbar, ohne das statische Spannungsgleichgewicht innerhalb des Bildfeldes zu sprengen, aufzulösen oder flach in sich zusammenfallen zu lassen. Wie sehr die Länge einer Geraden oder der Grad eines Winkels als Reaktion, als ein Echo auf eine andere im Objekt befindliche Form reagiert, wird gerade bei den Reliefkästen deutlich. Das Gegenüber oder auch die Fortsetzung eines Formteiles ist immer wie ein Echo in einer transformierten Form.
Gerd Reutter ist ein Plastiker, der mit Maßen maximierend umgeht, der aufbauend denkt, auch im übertragenen Sinne, dessen Plastik aufzeigen will, Grundprobleme darstellt. Bei vielen architektonisch anmutenden Plastiken fällt eine torsohafte Gesamterscheinung auf. Die durchbrochenen Flächen geben ihre Monumentalität preis, gewinnen für das Auge erfaßbare Räumlichkeit. Das Durchschauen der zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit ist dann ein intellektueller Akt, das Durchschauen der Räumlichkeit ein visuell-sinnliches Vergnügen. Zur äußeren Form treten ohne Pathos und Sentimentalität subtil spröde Oberflächen und manchmal sogar ein Höchstmaß an Fragilität. Über die Monumente der Dauer legen sich, durch die Oberflächenbehandlung des Materials verstärkt, Spuren von zeit und Vergänglichkeit. Reutter flieht nicht in die Rhetorik der Ikonographie, benutzt aber die Dreidimensionalität der Oberfläche als malerische Möglichkeit ohne illusionären Charakter. Dabei ist er so hermetisch in seiner Kunst, ein fast manieristisches Kunstprinzip, wie offen, auf Erklärung ausgerichtet. Bei Gerd Reutter ist Ehrlichkeit und sinnliche Wahrhaftigkeit ein Anliegen, das er jenseits von Künstlichkeit ansiedelt.

Werner Marx
Kunsthalle Mannheim

... UND WOHIN, 2002
Ton 28x135x14 cm
Die 135 cm lange, nur 14 cm tiefe, zudem flach gehaltene Skulptur vermittelt spontan den Eindruck einer archäologischen Trouvaille: Sie wirkt wie ein herausgetrenntes Terrassenstück aus den Hängen der hoch in den Anden gelegenen, um 1450 gegründeten heiligen Inka-Metropole Machu Picchu. Zu ihr schreibt der Brockhaus:
"Da in Terrassenbautechnik angelegt, fanden die vielen heiligen Bezirke, Plätze und Wohnbereiche ... auf engstem Raum Platz."
In Reutters Skulptur ist tatsächlich ebenfalls eine solche architektonisch-inhaltliche Verdichtung intendiert. Beginnend an dem von zwei pfeilerähnlichen Wangen flankierten, hochgelegten Absatz einer Treppe führen Stufen hinab auf eine Fläche, die der Höhe des Bodenniveaus entspricht. Diese Fläche führt zu einem flachgedeckten Schutzraum, der seinerseits zu einer niedrigen, grundrissähnlichen Aufschüttung mit tiefen, rechteckförmigen Einschnitten überleitet - auf unheimliche Weise suggeriert dieser Abschnitt eine Opfergrube. Es folgt wiederum eine Fläche, an deren Ende ein annähernd quadratischer, rahmenähnlicher Raumkörper steht, aus dem eine eingepasste Kugel herausragt.
Die Skulptur hat unbestreitbar kultischen Charakter. Allein die Wangen zu Beginn der Treppe implizieren ein Leitsystem, durch das - wie durch eine Kimme - Lichtstrahlen auf die Kugel am Ende der Skulptur projiziert werden. Auch hier könnte wieder die Geschichte der Inkas eine Rolle spielen: Seit ca. 1450 wechselte deren Religion von der Vorstellung eines Schöpfungsgottes zu jener eines Sonnengottes, für den entsprechende Kultstätten zur Verehrung geschaffen wurden.
Durch ihre beachtliche Größe musste die Skulptur in vier Teilen gebrannt werden - die sichtbare Addition ihrer Elemente betont zusätzlich den archäologischen Charakter dieses Werkes Gerd Reutters, d.h. eines in seinen Fragmenten existierenden harmonischen Ganzen.

Dr. Jochen Kronjäger
Kunsthalle Mannheim