Manches wird einem nicht an der Wiege
gesungen. - Einer wird Malergeselle. Er zieht nach Italien, um zu arbeiten,
und als er sich weiter in Richtung Paris aufmacht, bleibt er in Mannheim
hängen. Viel Arbeit für junge Malergesellen in der zerstörten
Nachkriegsstadt. Er verliebt sich dort in eine kunstsinnige Milchladenverkäuferin
und bleibt. Aus dem Malergesellen wird ein erfolgreicher Lebensmittelhändler.
Als er in Rente geht, blickt er auf stolz auf eine prosperierende Existenz
in einer prosperierenden Stadt zurück. Doch er schaut auch vorwärts
und will noch ein bisschen mehr vom Leben. In einem Prospekt der Mannheimer
Abendakademie liest er: "Freies Modellieren mit Ton. Der Dozent
ist ein bekannter Keramiker." "Das", sagt der heute 75-jährige
Mannheimer Gerd Reutter," schien mir das Richtige." Und er
beginnt einen Keramikkurs bei Klaus Lehmann, in dessen Obhut er vier
Jahre lang bleibt.
Schon 1994 nimmt er an einer ersten Gruppenausstellung teil die Klaus
Lehmann organisiert, und bis heute hat der umtriebige Reutter sechs
probate Kataloge vorzuweisen. Von Dr. Ekkart Klinge bis Prof. Dr. Manfred
Fath oder Dr. Jochen Kronjäger hat er namhafte Autoren aus der
Keramikszene und darüber hinaus für seine Katalogtexte und
Eröffnungsreden gewonnen, und die Liste seiner Einzelausstellungen
und Ausstellungsbeteiligungen ist beeindruckend lang. Offensichtlich
ein Organisationstalent.
Aber mehr als das. In der Mannheimer Innenstadt findet man ihn unter
der Angabe "Gerd Reutter. Bildhauer" im ehemaligen Milchladen
bestens ausgestattet vor. Hier ist sein Atelier, das umgenutzte Ladenlokal
mit großem Schaufenster steht voll mit seinen keramischen Plastiken:
Als ich ihn besuche, bereitet er seine Einzelausstellung mit Wasserturm
vor, eine Schau, die im Rahmen der 400-Jahr-Feier Mannheims stattfindet.
Der Wasserturm ist das hochbeliebte Wahrzeichen der Quadratestadt, und
Reutter hat sich hier erfolgreich die Katakomben als Ausstellungsort
erstritten. Nicht unbedingt verwunderlich, denn wer ihn verfolgt, bemerkt
seine Vorliebe für Lokalitäten, die man eher als unüblich
bezeichnen könnte: Alte Gewölbekeller etwa oder Kirchen oder
wie jetzt, unterirdische Räume zwischen den Fundamenten eines alten
Bauwerkes. Das mag damit zusammenhängen, dass er Mitbegründer
des "INDUSTRIETEMPEL e.V." ist, einer Gruppe von Kulturinteressierten,
die sich Anfang der 90er Jahre die Nutzung von ehemaligen Industrie-
und Lagerräumen in der Stadt auf die Fahnen schrieb und damit voll
im aufkommenden Trend lag.
Doch der Zusammenhang scheint beim Betrachten von Reutters Plastiken
auch inhaltlicher Art. Ganz sicherlich sieht man, dass er ein Lehmann-Schüler
ist. Die Art, den Ton zu be-greifen, die formale Gestaltung und die
Oberflächenbehandlung, teilweise auch die Motive, das alles gründet
bis heute sichtbar in dessen künstlerischer Auffassung. Doch ist
Reutters Weg mittlerweile abgezweigt.
Reutter erzählt archaische Geschichten. Der schamottierte Ton ist
überwiegend dunkel patiniert, die braun-grauen Engoben geben den
grob gefügten, rauen Plastiken eine düstere, naturhafte Haut.
Wie die von Schlingpflanzen befreiten Architekturen der Maya wirkt das,
wie man sie einst im mexikanischen Urwald freilegte, es sind Geräte,
Ruinen, Fragmente, kultische Räume der Vorzeit. Alles wirkt steinig,
erdig, verwittert und wettergegerbt, wie von Feuchtigkeit durchdrungen,
von Flechten und Moosen gezeichnet. Geheimnisvoll und dämmrig wirkt
das, als ob die Stücke nie von Licht beschienen worden seien, einst
halb verschlungen, angefressen von der Natur. Reutter, der sagt: "Das
Wichtigste ist mir die Form", spielt mit seinen monumental wirkenden
Keramiken zwischen Elementen, die offensichtlich architektonisch inspiriert
sind und einem abstrakt expressiven Ausdruck. Doch immer erzählt
er eine Geschichte, manches könnte als Bühnenbild für
ein antikes oder existenzielles Stück dienen über Schuld und
Verstrickung, Bestimmungen und Irrungen menschlichen Seins.
Dass ihm das selten ins Pathos abgleitet, gelingt Reutter durch die
povere Handhabung seiner Mittel, durch das richtige Quantum Neugierde,
die seine Plastiken ausstrahlen. Die damit einhergehende Offenheit,
entspringt einer Suche nach Antworten und Wahrheiten, die alterslos
und existentiell und immer wieder gültig ist. Denn sie weiß,
dass es beides nicht gibt: weder Antworten noch Wahrheiten, die Bestand
hätten.
Spannend scheint auch die Befassung mit dem Phänomen der Zeit angesichts
von Reutters archaischen Erfindungen und Setzungen. Sie scheinen alle
der gleichen Zeit zu entstammen, weit vor der heutigen Zeitrechnung
- und wirken doch bis ins heute hinein. Egal ob man Fels oder uralte
Bronze oder Eisenteile, verwittertes Holz oder antikes Gemäuer
assoziiert: die Aussagen scheinen auch deshalb so ehern, unumstößlich
und unverrückbar, da die Stücke selbst anscheinend endlos
lange Zeiten überdauerten oder in diese zurückreichen und
sich deshalb außerhalb der Zeit stellen. Sie wirken wie unbestechliche
Zeugen und Zeugnisse längst vergangener Tage. Innerhalb dieses
selbst gewählten sankrosankten Rahmens siedelt Reutter alle seine
Stücke an.
Die für diesen Eindruck immanent wichtige Oberflächenbeschaffenheit
mit ihrer oftmals geheimnisvoll wirkenden Struktur, den Zeichen und
Prägungen, ergibt sich ausschließlich aus unabsichtlich zugefügten
Arbeitsspuren, wie sie beim Auswalzen des Tones und dessen Montage etc.
entstehen. "Im Nachhinein verändere ich nichts, füge
nichts hinzu", so der Mannheimer Keramiker. Die Stücke erhalten
lediglich nach dem Schrühbrand ihre farbige Fassung mittels Engoben
und Oxiden, bevor sie im Elektroofen noch einmal bis auf etwa 10500C
gebrannt werden. Waren sie früher eher kleinformatig, sind heute
Stücke von 50 cm Höhe und darüber hinaus keine Seltenheit
mehr.
Nur sehr selten haben seine oft mehrteiligen Keramiken organischen Charakter.
Vielmehr sind sie (aus dicken Tonplatten) konstruktiv gebaut und gefügt.
Alle Elemente scheinen dabei gleichberechtigt und gleich wichtig, sowohl
was die Statik als auch was die Optik betrifft. Flächige und volumengebende
Bestandteile stehen dabei einander gegenüber. Und so statisch auch
die Formen in ihrer massigen Ausführung sind, so sind sie doch
zugänglich und durchlässig, bieten dem Auge Durchblicke und
Eingänge. Innen- und Außenräume korrespondieren miteinander.
Doch glaubt man Reutter seine Absichtslosigkeit und wenn er mit den
Schultern zuckt, fragt man ihn nach seinen Motiven oder gar gewollten
Aussagen. Für die Ausstellung im Mannheimer Wasserturm allerdings,
habe er sich mit dem Thema Wasser schon befasst. Eigenartig ist auch
die schon erwähnte statische Massivität und eine dieser direkt
gegenläufige Dynamisierung der tönernen Räume und Artefakte,
denen das Auge unablässig Szenen und Geschichten, Figuren und Funktionen
dazuerfindet. Sehr maßgeblich hierfür scheint mir, was Jochen
Kronjäger in dem Zusammenhang einmal die "Ambivalenz zwischen
imposanter Monumentalität und vertrauter Dimensionalität"
nannte. Die Beleuchtung, Licht und Schatten, sind dabei nicht zu unterschätzende
Spielmacher.
Doch seine Stücke inszeniert Gerd Reutter wiederum - wie gesagt
- gerne an Orten, die die Lichtlosigkeit, das Povere, auch die Nacktheit,
die Geschichtsträchtigkeit und Grundständigkeit seiner Keramiken
betonen: Keller, Gewölbe oder wie jetzt in Katakomben. Das Karge,
Schlichte und die Kraft dieser tragenden Räume findet ihre Entsprechung
in den Plastiken, die damit wie eine Potenzierung, ein Extrakt daraus
wirken. "Meine Frau hätte so gerne, dass ich auch mal was
Fröhliches, Buntes machen würde, aber das tu' ich nicht"
sagt er, und man mag sich wundern über soviel anarchische Unverstelltheit
hinter einer anscheinend so bürgerlichen Fassade. "Na ja",
brummt es unter ehrwürdigen grauen Haaren, "vielleicht bin
ich ja auch ein Spießer." - Wenn dem so ist, dann scheint
der Spießer dem Künstler nicht weiter im Wege zu stehen.
Gabi Dewald
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