KME 1.07, DEUTSCHLAND, 4 Seiten, S.16 - 19, 7 Bilder

Archaische Geschichten
Plastiken von Gerd Reutter

Manches wird einem nicht an der Wiege gesungen. - Einer wird Malergeselle. Er zieht nach Italien, um zu arbeiten, und als er sich weiter in Richtung Paris aufmacht, bleibt er in Mannheim hängen. Viel Arbeit für junge Malergesellen in der zerstörten Nachkriegsstadt. Er verliebt sich dort in eine kunstsinnige Milchladenverkäuferin und bleibt. Aus dem Malergesellen wird ein erfolgreicher Lebensmittelhändler. Als er in Rente geht, blickt er auf stolz auf eine prosperierende Existenz in einer prosperierenden Stadt zurück. Doch er schaut auch vorwärts und will noch ein bisschen mehr vom Leben. In einem Prospekt der Mannheimer Abendakademie liest er: "Freies Modellieren mit Ton. Der Dozent ist ein bekannter Keramiker." "Das", sagt der heute 75-jährige Mannheimer Gerd Reutter," schien mir das Richtige." Und er beginnt einen Keramikkurs bei Klaus Lehmann, in dessen Obhut er vier Jahre lang bleibt.
Schon 1994 nimmt er an einer ersten Gruppenausstellung teil die Klaus Lehmann organisiert, und bis heute hat der umtriebige Reutter sechs probate Kataloge vorzuweisen. Von Dr. Ekkart Klinge bis Prof. Dr. Manfred Fath oder Dr. Jochen Kronjäger hat er namhafte Autoren aus der Keramikszene und darüber hinaus für seine Katalogtexte und Eröffnungsreden gewonnen, und die Liste seiner Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen ist beeindruckend lang. Offensichtlich ein Organisationstalent.
Aber mehr als das. In der Mannheimer Innenstadt findet man ihn unter der Angabe "Gerd Reutter. Bildhauer" im ehemaligen Milchladen bestens ausgestattet vor. Hier ist sein Atelier, das umgenutzte Ladenlokal mit großem Schaufenster steht voll mit seinen keramischen Plastiken: Als ich ihn besuche, bereitet er seine Einzelausstellung mit Wasserturm vor, eine Schau, die im Rahmen der 400-Jahr-Feier Mannheims stattfindet. Der Wasserturm ist das hochbeliebte Wahrzeichen der Quadratestadt, und Reutter hat sich hier erfolgreich die Katakomben als Ausstellungsort erstritten. Nicht unbedingt verwunderlich, denn wer ihn verfolgt, bemerkt seine Vorliebe für Lokalitäten, die man eher als unüblich bezeichnen könnte: Alte Gewölbekeller etwa oder Kirchen oder wie jetzt, unterirdische Räume zwischen den Fundamenten eines alten Bauwerkes. Das mag damit zusammenhängen, dass er Mitbegründer des "INDUSTRIETEMPEL e.V." ist, einer Gruppe von Kulturinteressierten, die sich Anfang der 90er Jahre die Nutzung von ehemaligen Industrie- und Lagerräumen in der Stadt auf die Fahnen schrieb und damit voll im aufkommenden Trend lag.
Doch der Zusammenhang scheint beim Betrachten von Reutters Plastiken auch inhaltlicher Art. Ganz sicherlich sieht man, dass er ein Lehmann-Schüler ist. Die Art, den Ton zu be-greifen, die formale Gestaltung und die Oberflächenbehandlung, teilweise auch die Motive, das alles gründet bis heute sichtbar in dessen künstlerischer Auffassung. Doch ist Reutters Weg mittlerweile abgezweigt.
Reutter erzählt archaische Geschichten. Der schamottierte Ton ist überwiegend dunkel patiniert, die braun-grauen Engoben geben den grob gefügten, rauen Plastiken eine düstere, naturhafte Haut. Wie die von Schlingpflanzen befreiten Architekturen der Maya wirkt das, wie man sie einst im mexikanischen Urwald freilegte, es sind Geräte, Ruinen, Fragmente, kultische Räume der Vorzeit. Alles wirkt steinig, erdig, verwittert und wettergegerbt, wie von Feuchtigkeit durchdrungen, von Flechten und Moosen gezeichnet. Geheimnisvoll und dämmrig wirkt das, als ob die Stücke nie von Licht beschienen worden seien, einst halb verschlungen, angefressen von der Natur. Reutter, der sagt: "Das Wichtigste ist mir die Form", spielt mit seinen monumental wirkenden Keramiken zwischen Elementen, die offensichtlich architektonisch inspiriert sind und einem abstrakt expressiven Ausdruck. Doch immer erzählt er eine Geschichte, manches könnte als Bühnenbild für ein antikes oder existenzielles Stück dienen über Schuld und Verstrickung, Bestimmungen und Irrungen menschlichen Seins.
Dass ihm das selten ins Pathos abgleitet, gelingt Reutter durch die povere Handhabung seiner Mittel, durch das richtige Quantum Neugierde, die seine Plastiken ausstrahlen. Die damit einhergehende Offenheit, entspringt einer Suche nach Antworten und Wahrheiten, die alterslos und existentiell und immer wieder gültig ist. Denn sie weiß, dass es beides nicht gibt: weder Antworten noch Wahrheiten, die Bestand hätten.
Spannend scheint auch die Befassung mit dem Phänomen der Zeit angesichts von Reutters archaischen Erfindungen und Setzungen. Sie scheinen alle der gleichen Zeit zu entstammen, weit vor der heutigen Zeitrechnung - und wirken doch bis ins heute hinein. Egal ob man Fels oder uralte Bronze oder Eisenteile, verwittertes Holz oder antikes Gemäuer assoziiert: die Aussagen scheinen auch deshalb so ehern, unumstößlich und unverrückbar, da die Stücke selbst anscheinend endlos lange Zeiten überdauerten oder in diese zurückreichen und sich deshalb außerhalb der Zeit stellen. Sie wirken wie unbestechliche Zeugen und Zeugnisse längst vergangener Tage. Innerhalb dieses selbst gewählten sankrosankten Rahmens siedelt Reutter alle seine Stücke an.
Die für diesen Eindruck immanent wichtige Oberflächenbeschaffenheit mit ihrer oftmals geheimnisvoll wirkenden Struktur, den Zeichen und Prägungen, ergibt sich ausschließlich aus unabsichtlich zugefügten Arbeitsspuren, wie sie beim Auswalzen des Tones und dessen Montage etc. entstehen. "Im Nachhinein verändere ich nichts, füge nichts hinzu", so der Mannheimer Keramiker. Die Stücke erhalten lediglich nach dem Schrühbrand ihre farbige Fassung mittels Engoben und Oxiden, bevor sie im Elektroofen noch einmal bis auf etwa 10500C gebrannt werden. Waren sie früher eher kleinformatig, sind heute Stücke von 50 cm Höhe und darüber hinaus keine Seltenheit mehr.
Nur sehr selten haben seine oft mehrteiligen Keramiken organischen Charakter. Vielmehr sind sie (aus dicken Tonplatten) konstruktiv gebaut und gefügt. Alle Elemente scheinen dabei gleichberechtigt und gleich wichtig, sowohl was die Statik als auch was die Optik betrifft. Flächige und volumengebende Bestandteile stehen dabei einander gegenüber. Und so statisch auch die Formen in ihrer massigen Ausführung sind, so sind sie doch zugänglich und durchlässig, bieten dem Auge Durchblicke und Eingänge. Innen- und Außenräume korrespondieren miteinander. Doch glaubt man Reutter seine Absichtslosigkeit und wenn er mit den Schultern zuckt, fragt man ihn nach seinen Motiven oder gar gewollten Aussagen. Für die Ausstellung im Mannheimer Wasserturm allerdings, habe er sich mit dem Thema Wasser schon befasst. Eigenartig ist auch die schon erwähnte statische Massivität und eine dieser direkt gegenläufige Dynamisierung der tönernen Räume und Artefakte, denen das Auge unablässig Szenen und Geschichten, Figuren und Funktionen dazuerfindet. Sehr maßgeblich hierfür scheint mir, was Jochen Kronjäger in dem Zusammenhang einmal die "Ambivalenz zwischen imposanter Monumentalität und vertrauter Dimensionalität" nannte. Die Beleuchtung, Licht und Schatten, sind dabei nicht zu unterschätzende Spielmacher.
Doch seine Stücke inszeniert Gerd Reutter wiederum - wie gesagt - gerne an Orten, die die Lichtlosigkeit, das Povere, auch die Nacktheit, die Geschichtsträchtigkeit und Grundständigkeit seiner Keramiken betonen: Keller, Gewölbe oder wie jetzt in Katakomben. Das Karge, Schlichte und die Kraft dieser tragenden Räume findet ihre Entsprechung in den Plastiken, die damit wie eine Potenzierung, ein Extrakt daraus wirken. "Meine Frau hätte so gerne, dass ich auch mal was Fröhliches, Buntes machen würde, aber das tu' ich nicht" sagt er, und man mag sich wundern über soviel anarchische Unverstelltheit hinter einer anscheinend so bürgerlichen Fassade. "Na ja", brummt es unter ehrwürdigen grauen Haaren, "vielleicht bin ich ja auch ein Spießer." - Wenn dem so ist, dann scheint der Spießer dem Künstler nicht weiter im Wege zu stehen.

Gabi Dewald