KATALOG Gerd Reutter Wasser |
Bevor wir den Mars verließen,
gab es dort Wasser in Hülle und Fülle. Wir bewohnten fruchtbare
Kulturlandschaften. Nord- und Südhalbkugel, die Äquatorregionen
bedeckten dichte Regenwälder. Aus dem All bot sich unseren Astronauten
das Bild eines grünen Planeten. Zu unserer Überraschung erwies sich der vermeintlich wasserreiche Blaue Planet trockener als der Mars. In vielen Gebieten mangelte es an Trinkwasser: Es musste gewonnen, gespeichert, transportiert, verwaltet und aufbereitet werden. Gab es keine natürlichen Quellen
oder Gewässer, bohrten wir Brunnen und zapften Grund- und Tiefenwasser.
In Persien führten wir Grund- und Sickerwasser durch kilometerlange,
unterirdische Stollen an die Oberfläche. Auf Malta fingen wir den
spärlichen Winterregen in Zisternen auf. Das so zurückgehaltene Wasser transportierten und verteilten wir durch ausgeklügelte Bewässerungssysteme: In Ägypten überwanden wir mit Schöpfgeräten Höhenunterschiede. Über Aquädukte leiteten wir Wasser aus den Bergen in die Städte. Levadas auf Madeira leiteten das kostbare Nass von der steilen, landwirtschaftlich nicht nutzbaren, aber regenreichen Nordseite in schmalen Kanälen und Tunneln auf die weniger steile, terrassierte Südseite, wo wir Gemüse, Südfrüchte und Zuckerrohr anbauten. Es entstanden Wasserrechte: Levadeiros, Wasserbeamte wachten darüber, wer, wann, wo und wie lange die Schleusen der Kanäle öffnete, um seine Felder zu bewässern. Allmählich ging das Allgemeingut Wasser in Privateigentum über. Landbesitzer verfügten über die Quellen, Wasserläufe und Seen auf ihrem Grund. Wasser wurde zur Ware. Seine Verteilung regelte nun der Preis. Der Anteil des als Trinkwasser benötigten Wassers ging zurück. In immer größeren Mengen benötigten wir Wasser als Brauchwasser in Haushalt, Industrie und Landwirtschaft. Das Lebenselixier Wasser verwandelte sich in ein Gebrauchsgut, wir entwerteten es. Einen Teil des verschmutzten Wassers nutzte die Landwirtschaft, ein Teil wurde aufbereitet, den Rest leiten wir in die Flüsse Einzig die Religionen widersetzen sich dieser Entwertung. Wasser blieb Bestandteil ihrer Riten: Juden und Muslime vollziehen rituelle Waschungen, Christen die Taufe, Hindus baden im Ganges. Allmählich vergaßen wir unsere Vergangenheit. In der Antike holzten wir die Wälder rund um das Mittelmeer ab, im Mittelalter fielen große Teile der Wälder Mitteleuropas dem Ackerbau zum Opfer, im vergangenen Jahrhundert begannen wir mit der Vernichtung der Regenwälder. Wir vergifteten unsere Gewässer. Reiseveranstalter lockten mit dem Versprechen, uns die Aufenthaltskosten für jeden Regentag zu erstatten. Gleichzeitig forderten wir Trink- und Brauchwasser für Dusche und Swimmingpool. Indessen wurde sauberes Wasser für alle immer seltener und kostbarer. Wassermangel avancierte zur Todesursache Nummer eins. Während ich dies schreibe, ist
es erneut fünf vor zwölf. Der Blaue Planet steht vor dem Kollaps.
Wir entfalten die Sonnensegel unserer Raumschiffe und packen, ohne zu
wissen, wohin die Reise führt. |