Ton scheint ein Material für
Eigensinnige. Schaut man in die Kunstgeschichte, wurde es nur selten,
zögerlich und immer wieder mit Vorbehalten von Malern und Bildhauern
angefasst. Ton als Material für deren Bozzettos und plastische
Skizzen: ja. Darüber hinaus: nein. Ich erinnere in der Bildhauerklasse
am Frankfurter Städel die Tonkiste als einen sperrigen, zweifelhaft
riechenden, mit Plastik ausgeschlagenen Holzverschlag, dessen Inneres
mit pappigen, unbestimmt farbigen Brocken unterschiedlicher Konsistenz
angeräumt war. Schmutzig sah das aus, unwert, benutzt, verworfen
- kein Stoff, aus dem große Kunst gemacht würde...
Als sich die Tate Liverpool 2004 zur Ausstellung "A Secret History
of Clay" aufschwang, zeigten deren historische Exponate denn auch
die mehr oder weniger tastenden Versuche arrivierter Künstler,
dieses enorm wandlungsfähige Material auszuforschen: Gauguin und
Kandinsky, Matisse, Picasso, Archipenko und Braque, Malevich und Nolde
- sie blieben überwiegend nahe beim Gefäß und dem kleinen
Format verhaftet. Dennoch ist die Tatsache, dass nahezu alle namhaften
Künstler der Modernen Kunst des 20 Jahrhunderts irgendwann zum
Ton griffen, grundlegend für dessen zunehmende Emanzipation. Auch
das zeigte die bemerkenswerte und viel beachtete Schau in Großbritannien.
Ob man es nun als material brut auffasste oder als Ready made in Form
des berühmten Urinals einsetzte, ob man die besondere malerische
Qualität der mit dem Untergrund verschmolzenen Glasurfarben nutzte
oder die Parallele zwischen Gefäßproportionen und menschlichem
Körper auslotete, ob man damit ganze Environments überzog
oder keimende Wände aufbaute, unüberschaubare Tonmännerheere
schuf oder meterhohe Objekte: Ton kam schließlich in allen Formen
und in allen Formaten zum Einsatz. Wozu natürlich auch die Verfügbarkeit
neuer, so nicht gekannter Massen und Mittel sowie anderer Brennmöglichkeiten
nicht unerheblich beitrug.
Nach 1950 ergriff dieses neue Materialbewusstsein auch zunehmend die
KeramikerInnen selbst, die, ihrer traditionellen Aufgabe der Geschirr-
und Gefäßherstellung durch die Industrie beraubt, nach neuen
Ausdrucksmöglichkeiten suchten. Für Deutschland waren es Beate
Kuhn und Klaus Lehmann, später auch der früh verstorbene Robert
Sturm und für die DDR die große Gertraud Möhwald, die
wegweisend für die keramische Plastik waren. -
Trotzdem bietet gerade die Keramik - eben durch die schier unbegrenzte
plastische Willfährigkeit des Materials - ein enormes Potenzial
an Irrungen und ästhetischen Entgleisungen. Als Ton in den 70er
und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend von enthusiastischen
Hobby- und FeierabendtöpferInnen entdeckt wurde, war das für
viele der Beginn des endgültigen Niedergangs dieses schon eh verschrieenen
Metiers. Aschenbecher und Türschilder, Namenstassen und Kerzenständer
- die Keramik schien die Tore zu den tiefsten Niederungen des Kunstgewerbes
weiter denn je zu öffnen.
Doch im vorliegenden Falle passieren jetzt mehrere sehr seltsame Dinge:
Der keramische Bildhauer Klaus Lehmann, dem nichts mehr verhasst ist
wie Halbheiten, Selbstverwirklichungskitsch und Therapeuten-Kunst, entschließt
sich, in der Erwachsenenbildung tätig zu werden. Und ein Kaufmann,
der in Rente geht, sucht nach einem sinnvollen, anregenden Hobby: Gerd
Reutter. Zwei Eigensinnige. Der Bildhauer findet zunehmend mehr Freude
an seinem zunächst eher halbherzig begonnenen Zubrot. Und der Rentner
entpuppt sich aus dem Stand heraus als bildhauerisches Naturtalent.
Lehmann ist heute lange nicht mehr als Lehrer tätig. Und an Gerd
Reutters Tür steht schon länger: Bildhauer. Zu Recht.
Wer Reutters Laden-Galerie-Atelier betritt, fällt aus der Zeit.
Obwohl mit großem Fenster zur Straße ausgestattet, versinkt
das Draußen, wird unscharf, unwichtig. Umringt von seinen massiven,
blockigen Aufbauten, wandelt man zwischen Geschichte und Geschichten.
Hundert Assoziationen, unendlich viele Anknüpfungen, jede seiner
Plastiken ein Eingang in eine andere Erzählung, wo die Zeit anders
taktet. Reutter erzählt archaische Geschichten. Der schamottierte
Ton ist überwiegend dunkel patiniert, ihre braun-grauen Farben
geben den grob gefügten, rauen Plastiken eine düstere, naturhafte
Haut. Wie die von Schlingpflanzen befreiten Architekturen der Maya wirkt
das, die man einst im mexikanischen Urwald freilegte; es sind Geräte,
Ruinen, Fragmente, kultische Räume der Vorzeit. Alles wirkt steinig,
erdig, verwittert und wettergegerbt, wie ausgegraben, von Feuchtigkeit
durchdrungen, von Rost, Flechten und Moosen gezeichnet. Geheimnisvoll
und dämmrig, als ob die Stücke nie vom Licht beschienen worden
seien, einst halb verschlungen, angefressen von der Natur. Reutter,
der sagt: "Das Wichtigste ist mir die Form", spielt mit seinen
monumental wirkenden Keramiken zwischen Elementen, die offensichtlich
architektonisch inspiriert sind, und einem abstrakt expressiven Ausdruck.
Doch immer erzählt er eine Geschichte, manches könnte als
Bühnenbild für ein antikes oder existenzialistisches Stück
dienen über Schuld und Verstrickung, Bestimmungen und Irrungen
menschlichen Seins. Dass ihm das nicht ins Pathetische abgleitet, gelingt
Reutter durch die povere Handhabung seiner Mittel, durch das richtige
Quantum Neugierde, das ihn offensichtlich leitet und was seine Plastiken
ausstrahlen.
Reutter gehört zu den Künstlern, die im Ton dessen eigene
Natur, Beschaffenheit und Charakteristik sehr pur nutzen und hervorbringen.
Die Sprache des Materials wird analog zu den formalen Inhalten kultiviert
und eingesetzt. Der Dialog mit diesem Material - Ton in seiner plastischen
und seiner flüssigen Form (denn nichts anderes sind Engoben) -
scheint dem Bildhauer dabei Inspiration, ohne dass diese zum ästhetischen
Selbstzweck würden.
Die für seine Plastiken immanent wichtige Oberflächenbeschaffenheit
mit ihrer oftmals geheimnisvoll wirkenden Struktur, den Zeichen und
Prägungen, ergibt sich ausschließlich aus unabsichtlich zugefügten
Arbeitsspuren, wie sie beim Auswalzen des Tones und dessen Montage etc.
entstehen. "Im Nachhinein verändere ich nichts, füge
nichts hinzu", so Reutter. Die Stücke erhalten lediglich nach
dem Schrühbrand ihre farbige Fassung mittels Engoben und Oxiden,
bevor sie im Elektroofen noch einmal bis auf etwa 10500C gebrannt werden.
Waren sie früher eher kleinformatig, sind heute Stücke von
50 cm Höhe und darüber hinaus keine Seltenheit mehr.
Nur sehr selten haben seine oft mehrteiligen Keramiken organischen Charakter.
Vielmehr sind sie (aus dicken Tonplatten) konstruktiv gebaut und gefügt,
es leitet ihn ein sicheres Gefühl für Proportionen. Alle Elemente
scheinen dabei gleichberechtigt und gleich wichtig, sowohl was die Statik
wie auch, was die visuelle Bedeutung betrifft. Flächige und volumengebende
Bestandteile stehen dabei einander gegenüber. Und so statisch auch
die Formen in ihrer massigen Ausführung sind, so sind sie doch
zugänglich und durchlässig, bieten dem Auge Durchblicke und
Eingänge. Innen- und Außenräume korrespondieren miteinander.
Doch glaubt man Reutter seine Absichtslosigkeit und wenn er mit den
Schultern zuckt, fragt man ihn nach seinen Motiven oder gar gewollten
Aussagen. Für die Ausstellung im Mannheimer Wasserturm allerdings
habe er sich mit dem Thema Wasser schon befasst.
Eigenartig ist die bereits erwähnte statische Massivität und
eine dieser direkt gegenläufige Dynamisierung der tönernen
Räume und Artefakte, denen das Auge unablässig Szenen und
Inhalte, Figuren und Funktionen dazuerfindet. Sehr maßgeblich
für diese Dramatisierung, die andauernde Involvierung, die aktive
Einbeziehung des Betrachters scheint mir, was Jochen Kronjäger
im Bezug auf Reutters Kunst einmal die "Ambivalenz zwischen imposanter
Monumentalität und vertrauter Dimensionalität" nannte.
Die Beleuchtung, Licht und Schatten sind dabei nicht zu unterschätzende
Spielmacher.
Und gegenläufig zu seiner intentionalen Absichtslosigkeit steht
die Inszenierung der Stücke im Rahmen von Ausstellungen, die die
anscheinende Geschichtsträchtigkeit der Arbeiten enorm steigert:
Seine Plastiken zeigt Gerd Reutter gerne an Orten, die die Lichtlosigkeit,
das Povere, auch die Nacktheit, die Archaik und Grundständigkeit
seiner Keramiken betonen: in Kellern, Gewölben, zwischen Fundamenten
oder - wie jetzt- in den Katakomben des Mannheimer Wasserturmes. Sinnfällig
scheint einem da, dass Reutter zu dem Initiatoren des Anfang der 90er
Jahre in Mannheim gegründeten "Industrietempels" gehört.
Eine Gruppe vorwiegend junger Kulturinteressierter, die die Nutzung
von ehemaligen Industrie- und Lagerräumen in der Stadt auf ihre
Fahnen schrieb und damit voll im aufkommenden Trend lag.
Doch für seine eigenen Ausstellungen bevorzugt Reutter unterirdische
Gelasse. Diese "Un-Orte" sind als solche reduziert auf ihre
statischen Notwendigkeiten; die groben, belassenen Wände sind ungeschönt,
ihre Böden aus verdichteter Erde, und sie riechen nach feuchtem
Grund und altem Mauerwerk. Man denkt an Ruinen und an Nächte, die
in Schutzräumen verbracht werden mussten, in denen es nur mehr
um die Urinstinkte menschlichen Lebens gehen konnte und um die Angst,
die Enge, das Überleben. Räume, in denen Brennvorräte
oder Nahrungsmittel gehortet wurden, die sicherlich manches Geheimnis
bergen; Zeitzeugen, in denen die Zeit nicht zählt, an denen die
vielfachen Wandlungen des Oben, des Draußen, des im Hellen Liegenden
vorbeigingen, und auf deren stiller Unverändertheit ganze Gebäude
ruhen, sich stützen, gründen, sich verändern während
sie wachsen, Bewohner, Besitzer und Bestimmung wechseln mögen.
- Das Karge, Schlichte, das Urständige und die Kraft dieser tragenden
Räume findet ihre Entsprechung in den Plastiken, die wie eine Potenzierung,
ein Extrakt daraus wirken und die alle diese Aspekte in konzentrierter
Form beinhalten und ausstrahlen.
Spannend scheint Reutters Befassung mit dem Phänomen der Zeit.
Seine Erfindungen und Setzungen scheinen alle der gleichen Zeit zu entstammen,
weit vor der heutigen Zeitrechnung - und wirken doch bis ins Heute hinein.
Egal ob man Fels oder uralte Bronze oder Eisenteile, verwittertes Holz
oder antikes Gemäuer assoziiert: Die Aussagen wirken auch deshalb
so ehern, unumstößlich und unverrückbar, weil die Stücke
selbst anscheinend endlos lange Zeiten überdauerten oder in diese
zurückreichen und sich deshalb außerhalb der Zeit stellen.
Sie wirken wie unbestechliche Zeugen und Zeugnisse längst vergangener
Tage. Innerhalb dieses selbst gewählten salkrosankten Rahmens siedelt
Reutter alle seine Stücke an.
In ihrer Blockhaftigkeit und Direktheit erinnern viele Arbeiten an die
Wucht eines Eduardo Chillida. Doch sind diese Plastiken feiner ziseliert
und detailreicher ausgeführt. Im Gegensatz zu seinem einstigen
Lehrer, Klaus Lehmann, bleiben die Stücke hingegen konkreter, erzählerischer,
eine Tendenz, die sich in den letzten Jahren eher verstärkte. Auch
wenn Reutter das für sich verneint: Er ist ein Geschichtenerzähler.
Und die Patina, die alle seine plastischen Geschichten haben, macht
sie zu Parabeln. Doch wie alle guten Geschichten, ist deren Sinn weit
deutbar, legen sie nicht fest, moralisieren sie nicht. Sie alle reden
von menschlicher Kultur, ihren Leistungen und Vergeblichkeiten. Sind
Räume, auch Werkzeuge, wie sie sich Menschen schufen.
Spricht sogar etwas wie Ehrfurcht aus ihnen? Vor der Ewigkeit-Zeit,
dem Vergehen und dem endlosen Wiederkehren des Kreatürlichen? Wie
sich das einzelne Leben aufhebt im fortlaufenden, immer gleichen Drehen
der Erde, der Sterne umeinander? Reutters Plastiken sind Zeitmaschinen,
sind Zeit-Wechsler - eine Sekunde - ein Leben - eine Ewigkeit - eine
Sekunde. So wie die Plastiken vor unseren Augen ins Monumentale zu wachsen
scheinen, so schrumpfen sie uns auf das Maß derer, die staunend
an den Wänden und Volumen auf und ab schauen. Schützen sie
uns? Stürzen sie ein? Verraten sie uns etwas? Erschlagen, begraben
sie uns? Schaffen sie uns Raum? Wer baute schon alles auf sie? Nutzte
sie? - Worauf bauen wir? - Reutters Plastiken sind offene Formulierungen,
scheinen eine Art Suche nach Antworten und Wahrheiten und sind damit
existenziell, alterslos und immer wieder gültig. Denn diese Suche
weiß, dass es beides nicht gibt: weder Antworten noch Wahrheiten,
die Bestand hätten.
Aber auch, dass die Sehnsucht danach Ursprung und Triebfeder menschlicher
Kreativität ist.
Gabi Dewald © Lorsch, Januar 2007
|