KATALOG Gerd Reutter
Skulpturen zur 400 Jahr-Feier

ZEITMASCHINE
Januar 2007

Ton scheint ein Material für Eigensinnige. Schaut man in die Kunstgeschichte, wurde es nur selten, zögerlich und immer wieder mit Vorbehalten von Malern und Bildhauern angefasst. Ton als Material für deren Bozzettos und plastische Skizzen: ja. Darüber hinaus: nein. Ich erinnere in der Bildhauerklasse am Frankfurter Städel die Tonkiste als einen sperrigen, zweifelhaft riechenden, mit Plastik ausgeschlagenen Holzverschlag, dessen Inneres mit pappigen, unbestimmt farbigen Brocken unterschiedlicher Konsistenz angeräumt war. Schmutzig sah das aus, unwert, benutzt, verworfen - kein Stoff, aus dem große Kunst gemacht würde...
Als sich die Tate Liverpool 2004 zur Ausstellung "A Secret History of Clay" aufschwang, zeigten deren historische Exponate denn auch die mehr oder weniger tastenden Versuche arrivierter Künstler, dieses enorm wandlungsfähige Material auszuforschen: Gauguin und Kandinsky, Matisse, Picasso, Archipenko und Braque, Malevich und Nolde - sie blieben überwiegend nahe beim Gefäß und dem kleinen Format verhaftet. Dennoch ist die Tatsache, dass nahezu alle namhaften Künstler der Modernen Kunst des 20 Jahrhunderts irgendwann zum Ton griffen, grundlegend für dessen zunehmende Emanzipation. Auch das zeigte die bemerkenswerte und viel beachtete Schau in Großbritannien. Ob man es nun als material brut auffasste oder als Ready made in Form des berühmten Urinals einsetzte, ob man die besondere malerische Qualität der mit dem Untergrund verschmolzenen Glasurfarben nutzte oder die Parallele zwischen Gefäßproportionen und menschlichem Körper auslotete, ob man damit ganze Environments überzog oder keimende Wände aufbaute, unüberschaubare Tonmännerheere schuf oder meterhohe Objekte: Ton kam schließlich in allen Formen und in allen Formaten zum Einsatz. Wozu natürlich auch die Verfügbarkeit neuer, so nicht gekannter Massen und Mittel sowie anderer Brennmöglichkeiten nicht unerheblich beitrug.
Nach 1950 ergriff dieses neue Materialbewusstsein auch zunehmend die KeramikerInnen selbst, die, ihrer traditionellen Aufgabe der Geschirr- und Gefäßherstellung durch die Industrie beraubt, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchten. Für Deutschland waren es Beate Kuhn und Klaus Lehmann, später auch der früh verstorbene Robert Sturm und für die DDR die große Gertraud Möhwald, die wegweisend für die keramische Plastik waren. -
Trotzdem bietet gerade die Keramik - eben durch die schier unbegrenzte plastische Willfährigkeit des Materials - ein enormes Potenzial an Irrungen und ästhetischen Entgleisungen. Als Ton in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend von enthusiastischen Hobby- und FeierabendtöpferInnen entdeckt wurde, war das für viele der Beginn des endgültigen Niedergangs dieses schon eh verschrieenen Metiers. Aschenbecher und Türschilder, Namenstassen und Kerzenständer - die Keramik schien die Tore zu den tiefsten Niederungen des Kunstgewerbes weiter denn je zu öffnen.
Doch im vorliegenden Falle passieren jetzt mehrere sehr seltsame Dinge: Der keramische Bildhauer Klaus Lehmann, dem nichts mehr verhasst ist wie Halbheiten, Selbstverwirklichungskitsch und Therapeuten-Kunst, entschließt sich, in der Erwachsenenbildung tätig zu werden. Und ein Kaufmann, der in Rente geht, sucht nach einem sinnvollen, anregenden Hobby: Gerd Reutter. Zwei Eigensinnige. Der Bildhauer findet zunehmend mehr Freude an seinem zunächst eher halbherzig begonnenen Zubrot. Und der Rentner entpuppt sich aus dem Stand heraus als bildhauerisches Naturtalent. Lehmann ist heute lange nicht mehr als Lehrer tätig. Und an Gerd Reutters Tür steht schon länger: Bildhauer. Zu Recht.
Wer Reutters Laden-Galerie-Atelier betritt, fällt aus der Zeit. Obwohl mit großem Fenster zur Straße ausgestattet, versinkt das Draußen, wird unscharf, unwichtig. Umringt von seinen massiven, blockigen Aufbauten, wandelt man zwischen Geschichte und Geschichten. Hundert Assoziationen, unendlich viele Anknüpfungen, jede seiner Plastiken ein Eingang in eine andere Erzählung, wo die Zeit anders taktet. Reutter erzählt archaische Geschichten. Der schamottierte Ton ist überwiegend dunkel patiniert, ihre braun-grauen Farben geben den grob gefügten, rauen Plastiken eine düstere, naturhafte Haut. Wie die von Schlingpflanzen befreiten Architekturen der Maya wirkt das, die man einst im mexikanischen Urwald freilegte; es sind Geräte, Ruinen, Fragmente, kultische Räume der Vorzeit. Alles wirkt steinig, erdig, verwittert und wettergegerbt, wie ausgegraben, von Feuchtigkeit durchdrungen, von Rost, Flechten und Moosen gezeichnet. Geheimnisvoll und dämmrig, als ob die Stücke nie vom Licht beschienen worden seien, einst halb verschlungen, angefressen von der Natur. Reutter, der sagt: "Das Wichtigste ist mir die Form", spielt mit seinen monumental wirkenden Keramiken zwischen Elementen, die offensichtlich architektonisch inspiriert sind, und einem abstrakt expressiven Ausdruck. Doch immer erzählt er eine Geschichte, manches könnte als Bühnenbild für ein antikes oder existenzialistisches Stück dienen über Schuld und Verstrickung, Bestimmungen und Irrungen menschlichen Seins. Dass ihm das nicht ins Pathetische abgleitet, gelingt Reutter durch die povere Handhabung seiner Mittel, durch das richtige Quantum Neugierde, das ihn offensichtlich leitet und was seine Plastiken ausstrahlen.
Reutter gehört zu den Künstlern, die im Ton dessen eigene Natur, Beschaffenheit und Charakteristik sehr pur nutzen und hervorbringen. Die Sprache des Materials wird analog zu den formalen Inhalten kultiviert und eingesetzt. Der Dialog mit diesem Material - Ton in seiner plastischen und seiner flüssigen Form (denn nichts anderes sind Engoben) - scheint dem Bildhauer dabei Inspiration, ohne dass diese zum ästhetischen Selbstzweck würden.
Die für seine Plastiken immanent wichtige Oberflächenbeschaffenheit mit ihrer oftmals geheimnisvoll wirkenden Struktur, den Zeichen und Prägungen, ergibt sich ausschließlich aus unabsichtlich zugefügten Arbeitsspuren, wie sie beim Auswalzen des Tones und dessen Montage etc. entstehen. "Im Nachhinein verändere ich nichts, füge nichts hinzu", so Reutter. Die Stücke erhalten lediglich nach dem Schrühbrand ihre farbige Fassung mittels Engoben und Oxiden, bevor sie im Elektroofen noch einmal bis auf etwa 10500C gebrannt werden. Waren sie früher eher kleinformatig, sind heute Stücke von 50 cm Höhe und darüber hinaus keine Seltenheit mehr.
Nur sehr selten haben seine oft mehrteiligen Keramiken organischen Charakter. Vielmehr sind sie (aus dicken Tonplatten) konstruktiv gebaut und gefügt, es leitet ihn ein sicheres Gefühl für Proportionen. Alle Elemente scheinen dabei gleichberechtigt und gleich wichtig, sowohl was die Statik wie auch, was die visuelle Bedeutung betrifft. Flächige und volumengebende Bestandteile stehen dabei einander gegenüber. Und so statisch auch die Formen in ihrer massigen Ausführung sind, so sind sie doch zugänglich und durchlässig, bieten dem Auge Durchblicke und Eingänge. Innen- und Außenräume korrespondieren miteinander. Doch glaubt man Reutter seine Absichtslosigkeit und wenn er mit den Schultern zuckt, fragt man ihn nach seinen Motiven oder gar gewollten Aussagen. Für die Ausstellung im Mannheimer Wasserturm allerdings habe er sich mit dem Thema Wasser schon befasst.
Eigenartig ist die bereits erwähnte statische Massivität und eine dieser direkt gegenläufige Dynamisierung der tönernen Räume und Artefakte, denen das Auge unablässig Szenen und Inhalte, Figuren und Funktionen dazuerfindet. Sehr maßgeblich für diese Dramatisierung, die andauernde Involvierung, die aktive Einbeziehung des Betrachters scheint mir, was Jochen Kronjäger im Bezug auf Reutters Kunst einmal die "Ambivalenz zwischen imposanter Monumentalität und vertrauter Dimensionalität" nannte. Die Beleuchtung, Licht und Schatten sind dabei nicht zu unterschätzende Spielmacher.
Und gegenläufig zu seiner intentionalen Absichtslosigkeit steht die Inszenierung der Stücke im Rahmen von Ausstellungen, die die anscheinende Geschichtsträchtigkeit der Arbeiten enorm steigert: Seine Plastiken zeigt Gerd Reutter gerne an Orten, die die Lichtlosigkeit, das Povere, auch die Nacktheit, die Archaik und Grundständigkeit seiner Keramiken betonen: in Kellern, Gewölben, zwischen Fundamenten oder - wie jetzt- in den Katakomben des Mannheimer Wasserturmes. Sinnfällig scheint einem da, dass Reutter zu dem Initiatoren des Anfang der 90er Jahre in Mannheim gegründeten "Industrietempels" gehört. Eine Gruppe vorwiegend junger Kulturinteressierter, die die Nutzung von ehemaligen Industrie- und Lagerräumen in der Stadt auf ihre Fahnen schrieb und damit voll im aufkommenden Trend lag.
Doch für seine eigenen Ausstellungen bevorzugt Reutter unterirdische Gelasse. Diese "Un-Orte" sind als solche reduziert auf ihre statischen Notwendigkeiten; die groben, belassenen Wände sind ungeschönt, ihre Böden aus verdichteter Erde, und sie riechen nach feuchtem Grund und altem Mauerwerk. Man denkt an Ruinen und an Nächte, die in Schutzräumen verbracht werden mussten, in denen es nur mehr um die Urinstinkte menschlichen Lebens gehen konnte und um die Angst, die Enge, das Überleben. Räume, in denen Brennvorräte oder Nahrungsmittel gehortet wurden, die sicherlich manches Geheimnis bergen; Zeitzeugen, in denen die Zeit nicht zählt, an denen die vielfachen Wandlungen des Oben, des Draußen, des im Hellen Liegenden vorbeigingen, und auf deren stiller Unverändertheit ganze Gebäude ruhen, sich stützen, gründen, sich verändern während sie wachsen, Bewohner, Besitzer und Bestimmung wechseln mögen. - Das Karge, Schlichte, das Urständige und die Kraft dieser tragenden Räume findet ihre Entsprechung in den Plastiken, die wie eine Potenzierung, ein Extrakt daraus wirken und die alle diese Aspekte in konzentrierter Form beinhalten und ausstrahlen.
Spannend scheint Reutters Befassung mit dem Phänomen der Zeit. Seine Erfindungen und Setzungen scheinen alle der gleichen Zeit zu entstammen, weit vor der heutigen Zeitrechnung - und wirken doch bis ins Heute hinein. Egal ob man Fels oder uralte Bronze oder Eisenteile, verwittertes Holz oder antikes Gemäuer assoziiert: Die Aussagen wirken auch deshalb so ehern, unumstößlich und unverrückbar, weil die Stücke selbst anscheinend endlos lange Zeiten überdauerten oder in diese zurückreichen und sich deshalb außerhalb der Zeit stellen. Sie wirken wie unbestechliche Zeugen und Zeugnisse längst vergangener Tage. Innerhalb dieses selbst gewählten salkrosankten Rahmens siedelt Reutter alle seine Stücke an.
In ihrer Blockhaftigkeit und Direktheit erinnern viele Arbeiten an die Wucht eines Eduardo Chillida. Doch sind diese Plastiken feiner ziseliert und detailreicher ausgeführt. Im Gegensatz zu seinem einstigen Lehrer, Klaus Lehmann, bleiben die Stücke hingegen konkreter, erzählerischer, eine Tendenz, die sich in den letzten Jahren eher verstärkte. Auch wenn Reutter das für sich verneint: Er ist ein Geschichtenerzähler. Und die Patina, die alle seine plastischen Geschichten haben, macht sie zu Parabeln. Doch wie alle guten Geschichten, ist deren Sinn weit deutbar, legen sie nicht fest, moralisieren sie nicht. Sie alle reden von menschlicher Kultur, ihren Leistungen und Vergeblichkeiten. Sind Räume, auch Werkzeuge, wie sie sich Menschen schufen.
Spricht sogar etwas wie Ehrfurcht aus ihnen? Vor der Ewigkeit-Zeit, dem Vergehen und dem endlosen Wiederkehren des Kreatürlichen? Wie sich das einzelne Leben aufhebt im fortlaufenden, immer gleichen Drehen der Erde, der Sterne umeinander? Reutters Plastiken sind Zeitmaschinen, sind Zeit-Wechsler - eine Sekunde - ein Leben - eine Ewigkeit - eine Sekunde. So wie die Plastiken vor unseren Augen ins Monumentale zu wachsen scheinen, so schrumpfen sie uns auf das Maß derer, die staunend an den Wänden und Volumen auf und ab schauen. Schützen sie uns? Stürzen sie ein? Verraten sie uns etwas? Erschlagen, begraben sie uns? Schaffen sie uns Raum? Wer baute schon alles auf sie? Nutzte sie? - Worauf bauen wir? - Reutters Plastiken sind offene Formulierungen, scheinen eine Art Suche nach Antworten und Wahrheiten und sind damit existenziell, alterslos und immer wieder gültig. Denn diese Suche weiß, dass es beides nicht gibt: weder Antworten noch Wahrheiten, die Bestand hätten.
Aber auch, dass die Sehnsucht danach Ursprung und Triebfeder menschlicher Kreativität ist.
Gabi Dewald © Lorsch, Januar 2007