Katalog Gerd Reutter
1996-1998
Skulpturen

Zu den Arbeiten von Gerd Reutter
Werner Marx Kunsthalle Mannheim

Die Modellierung einer keramischen Plastik beschäftigt sich nicht nur mit der Komposition und Gestaltung eines dreidimensionalen Gebildes, sie modelliert zugleich unseren Blick. Unsere Augen sehen nie alles gleichmäßig detailliert. Unser Sehen hat keine Kontinuität, sondern ist sprunghaft. Es wechseln Zustände genauen Hinsehens mit solchen der Zerstreuung; es folgen Versuche, das Ganze zu übersehen, auf Bemühungen, ins Detail einzudringen. Erst der nichtkalkulierte Wechsel verschiedener Einstellungen, der nichtkontinuierliche Übergang vom einen zum anderen macht unser Sehen aus. Unseren Blick zu modellieren, ist darum die Aufgabe der Skulptur, und nicht, Volumen in einen leeren Raum zu setzen.

· Aus der Spannung zwischen äußerster Konzentration und spielerischer Fälle gewinnt Gerd Reutter für unser Auge einen Freiraum, den es gleichzeitig gezielt und improvisierend zu füllen gilt. Seine keramischen Plastiken sorgen für Dreidimensionalität bis ins kleinste Detail, betonen das Licht-Schatten-Spiel und verleihen den Skulpturen den Eindruck einer Art .Unvollendetheit., eine ursprüngliche, primitive Kraft. Groß und klein, nah und fern, Deutlichkeit im Detail und Überschaubarkeit erzeugen den Eindruck, daß gerade seine mit Architekturzitaten spielenden Skulpturen, aus der Distanz gesehen, die Illusion von Bildern, von kleinen Bühnenbildern annehmen.

· Vielleicht ist dieser Eindruck insofern nicht ganz falsch, als mit jenen Perspektivmitteln, welche Bühnenbildner in den Maquetten und selbst in der Ausführung ihrer szenischen Konstruktionen gebrauchen, Größen- und Raumverhältnisse vorgetäuscht werden, die nicht nachmessbar sind, weil sie mit Augenbetrug rechnen. Die Kleinheit und die Bemalung dient nicht zum trompe l`oeuil, sondern die räumlich bedingte Verkleinerung des plastischen Gebildes unterstreicht ohne Bedeutungsverlust die ganzheitliche Bildidee. Diese verblüffend kleinen Konstruktionen sind Kleinplastiken, nicht weil sie klein oder Verkleinerungen sind, sondern weil sie ihre Realität nicht in der Wirklichkeit haben und nicht an wirklichen Gegenständen gemessen werden wollen. Sie sollen nirgendwo anders als quasi im Kopf des Betrachters und in der imaginären Welt der Kunstwerke existieren. Ein wirkliches Entziffern gelingt wohl nur durch ein .erfühlendes. Sehen, das der Ton in seiner erdhaften Fragilität allerdings nur den Augen erlaubt.

· Die Assoziation .Miniaturbühne2 lenkt in die falsche Richtung, wenn der Betrachter an einen architektonisch regelgeleiteten, funktionalen Aufbau denkt. Reutters Konstruktionen sind weder auf eine spezifische Absicht, noch auf vorformulierte Theorien und Ideen gegründet. Ihr Maßstab wird nicht errechnet, denn für ihn ist die Masse nicht von Bedeutung, wenn nur das Werk hält. Zwar gibt es die Präfiguration im Kopf des Plastikers, doch führen letztlich Experiment und Erfindung zu den endgültigen Strukturen. .Ich verstehe mich als Modellierer. Mit den Händen forme ich und bin während der Arbeit voll konzentriert. Ton trocknet schnell. Bei Beginn ist die Skulptur geistig im Kopf. Während der Gestaltung sagt mir den Ton, so geht es oder so geht es nicht. Nach Vollendung steht die Skulptur Tage im Trockenraum und wird dann gebrannt. (Reutter) Folglich enthält jede Suche ein Maß Unübersehbarem, eine Art von Beunruhigung, ein Staunen nach der Vollendung, nach dem Abschluss der Arbeit.

· So offen Reutter im Umgang mit seinen Formalien auch ist, geht er doch auf die Gesetzmäßigkeiten von Skulptur ein, auf die Rhythmisierung, damit auch Kontrastierung von Fläche und Volumen, von Hohlraum und Raumbegrenzung, von Innen- und Außenraum. Dieser Raum wird bei Reutter durch eine äußerst bewegliche Oberfläche mit unvorhergesehenen Rhythmen suggeriert. Es ist kein statischer Raum wie in der klassischen Kunst, sondern ein dynamischer Raum. Das Interesse liegt weniger beim geschlossenen Körpervolumen als vielmehr beim Phänomen der Abgrenzung und Verflechtung eines Körpers in seinen Umraum. Die äußere .Schale. wird aufgerissen, das Licht führt den Blick nach innen. So beziehen seine Plastiken ihren Reichtum oft aus der Polarität massiv gebauter Elemente, die ein Innen umschließen und dank eines permanenten Gestaltwandels dem Bestehenden neue Facetten beisteuern können. Volumen wird dann nicht durch Masse erreicht, sondern mittels Gerüsten, Schranken und Wänden, die den Innenraum bilden und dergestalt auch die .Leere. zu einem positiv geladenen Element machen. Diese Probleme von Skulptur werden jedoch nicht ausdrücklich formuliert, sondern ergeben sich eher beiläufig aus der jeweiligen Konstellation der einzelnen Formen.

· Allerdings gibt es Gefahren schon bei der Wahl der die Plastik konstituierenden Elemente, so etwa bei bizarren Formen. Reutter vermeidet deswegen solche Formen. Die einzelnen Teile fallen nicht auf, sie gleichen einander, wiederholen sich. Bizarre Formen lenken die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich und erschweren den Blick auf das Gefüge der Plastik oder sie werden zu einer Art Fluchtpunkt in diesem Gefüge, in dem alle übrigen Teile nur als Einfassung dieses einen Teiles erscheinen. Eine entgegengesetzte Gefahr besteht dann, wenn sich die Teile zwar nicht untereinander, aber von Plastik zu Plastik zu sehr gleichen, wenn eine bestimmte Sorte von Stücken zu einer Art von Vokabular wird, mit dem alle Plastiken aufgebaut werden. Wenn so Reutters Gebilde meist etwas ruinös, fragmentarisch oder wie Fossilien aus längst vergangenen Zeiten wirken, so steht dahinter das künstlerische Diktum: Ein Prozess der ständigen Zerstörung von Formen um neuer Formen willen - ein Verfahren der Destruktion als Bedingung der Rekonstruktion. Zudem geht der Eindruck des Unfertigen immer einher mit einer Persiflage der Perfektion. Dennoch, gerade in diesen Momenten der scheinbaren Beiläufigkeit und Zufälligkeit, der scheinbaren Unfertigkeit, der Funktionslosigkeit manifestiert sich die .reflektierte Unbefangenheit. Reutters, so daß seine Tonplastiken eigentlich keine Wiederholung kennen. .Die Plastik wiederholt nicht, was wir kennen, sie ist selbst eine Sonde im Unbekannten., schrieb Gottfried Boehm. Das scheinbar Abstrakte und Bestimmbare von Raum und Zeit findet in den Formen eine Anschauung, weil durch diese für den Betrachter der Raum neu vermessen wird und eine kunstvolle Bestimmung findet.

· Der Begriff des Plastischen bezieht sich nicht nur auf die Gattung Plastik, er nennt zugleich ein ausgezeichnetes Strukturmerkmal eines Kunstwerks Überhaupt. In diesem Kontext steht die bereits angedeutete Überzeugung, daß das, womit der Künstler umgeht, selber mit Fähigkeiten begabt ist, die der Kunst zugute kommen können. Der Ton ist für Reutter kein bloßer toter Stoff. Der Ton hat für ihn eine eigene Gerichtetheit, eine eigene Energie und dadurch gewinnt das Modellieren in der Arbeit ebenfalls eine eigene Qualität. Reutters Formen sind nie neutral, strikt geometrisch, flach, zeigen immer seine Handschrift und versuchen nie, das Ausgangsmaterial zu transzendieren. Auch die Farbgestaltung ist gegenüber der Ton-Form zweitrangig. .Ton ist mit das älteste Material, mit dem künstlerisch gearbeitet wurde. Ton mit den Händen zu formen, ist ein Erlebnis. Ton muß für mich auch nach der Fertigstellung der Skulptur immer noch als Ton erkannt werden. Farbe an meinen Arbeiten ist für mich zweitrangig. Die Form ist das Entscheidende. Nach dem Schrühbrand ca. 900 Grad, färbe ich meine Skulpturen nur ganz leicht mit Engobe. Das ist im Prinzip flüssiger Ton. Also Erdfarbe.  Danach kommt ein zweiter Brand mit ca. 1200 Grad.. (Reutter) 

· Reutter läßt dem Rezipienten seiner Kunst einen weiten Spielraum: Die Assoziationen, die sich nicht zuletzt wegen der metaphorischen Titel einstellen, mögen in ganz verschiedene Richtungen zielen; eigentlich wäre es - ganz der Arbeitsweise gemäß - recht, wenn ein Werk seine Bedeutung von Mal zu Mal ändert. Bei ihrer allseitigen .Offenheit. bekommt man Reutters Werke doch nie ganz zu fassen, seien es nun die tiefgreifenden Bezüge zu mythischer Archaik, seien es anthropomorphe Fragmente, seien es Architekturzitate oder seien es die zeitspeichernde nachgeahmte objets trouves aus den archäologischen, ethnologischen und anthropologischen Archiven. Nur soviel scheint gewiss: Diese Skulpturen sind von großem Reichtum - als Formulierungen plastischer Anliegen zwischen Form und Farbe, zwischen raumgreifender und raumverdrängender Präsenz, zwischen spröder, profaner und kostbarer Materialbeschaffenheit, zwischen sakraler Entrücktheit und taktilem Oberflächenreiz, aber auch als narrativ eloquente Werke, die von der Verbindlichkeit vergangener Kulturen sprechen.

Werner Marx

 

 

REDE zur Ausstellung Reutter 1998

Dr. Jochen Kronjäger, Kunsthalle Mannheim

Vor genau 3 Jahren und 8 Monaten - also im September 1994 - hatte Gerd REUTTER in diesem historischen Gewölbekeller seine 1. Einzel-Ausstellung überhaupt - meine sehr verehrten Damen und Herren -, 1996 folgte hier unten eine weitere Einzelpräsentation und - heute beginnend - nun schon die dritte: Gerd, ich schlage vor, wir okkupieren den Keller mit einer ständigen Sammlung REUTTER!

Einige historische Anmerkungen zu diesem Keller unter dem Quadrat B 4, 2-3, der wie eine Krypta konzipiert ist, deren Pfeiler ein Gratgewölbe nach Art eines Kreuzrippengewölbes überspannt.

 Dieser gewaltige Raum ist die Substruktion eines Palais., das 1730 von der Familie Dalberg erbaut wurde, die später nach N 3 umsiedelte - in das heute noch nach ihr benannte Dalberg-Haus. 1769 erwarb die Immobilie B 4, 2-3 der Freiherr von Venningen, 1790 Max Joseph von Pfalz-Zweibrücken und 1808 das Bankhaus Schmalz.

Die rund zehnjährige aktive Ära der kurfürstlichen Familie in diesem Gebäude gab ihm seinen bis heute tradierten Namen: .Zweibrücken-Palais.. Und spannend ist die Geschichte dieser Familie sowieso:

Max - korrekt: Maximilian - Joseph ist der Neffe des berühmten Karl Theodor, der 1788 durch die Unterbrechung der Linie der Wittelsbacher an den Münchner Hof berufen wurde. Als er 1799 kinderlos starb, wurde eben dieser Neffe als Kurfürst Maximilian IV. Joseph sein Nachfolger. Und der ist dann 1806 von Napoleons

Gnaden als Maximilian I. Joseph zum König von Bayern inthronisiert worden.

Besagter Max Joseph - geboren am 27. Mai 1756 in Mannheim - war es, der 1790

in das Palais über diesem Gewölbekeller einzog. Sein Sohn ist der später berühmte König Ludwig I. von Bayern, der als damals Vierjähriger hierherkam. Es ist also sicher zutreffend, wenn Susanne Räuchle 1994 im MANNHEIMER MORGEN schreibt

-Zitat-: .König Ludwig von Bayern verbrachte seine Kindheit in dem Quadrat B 4, 2-3, hat vielleicht sogar in dem Keller .Versteckerles. gespielt.. [ZITAT-ENDE.]

Ludwig I. - meine Damen und Herren - sollte zu einem der größten Kunstförderer des 19. Jahrhunderts werden . er hat unter anderem die Alte und die Neue Pinakothek sowie die Glyptothek in München gegründet . und hätte mit Sicherheit seine helle Freude über die heutige kulturelle Nutzung .seines. Kellers. Vielleicht sollte

ich noch anmerken, daß unsere Nachbarstadt LUDWIGS-Hafen ihren Namen eben diesem Ludwig verdankt.

 

Doch nun zum Künstler: Gerd Reutter, 1931 in Rastatt geboren, ist - wie ich das in meiner Eröffnungsrede 1994 formulierte - ein SPÄTBERUFENER. Seit 1991, also mit Beginn seines 60. Lebensjahres, gestaltet er Skulpturen in Ton. Präziser noch: Die aus Neugierde begonnene Teilnahme an einem Kurs des bekannten Ton-

plastikers Klaus Lehmann -[evtl. HINWEIS!]- im Mannheimer Stadtteil Neckarau

seit Anfang September 1991 zum Thema .Nichtfigürliche Keramik. löste die Begei-

sterung zu eigener künstlerischer Gestaltung aus, wobei - ungewöhnlich genug - die Phantasie Reutters insbesondere vom Begriff des .Nichtfigürlichen. beflügelt wurde. Seit 1994 folgen Einzelausstellungen - u.a. hier im Keller, aber auch in der CEK-Galerie in Karlsruhe - sowie Gruppenausstellungen, u.a. im Rahmen von .Passagen ART. in Mannheim und Heidelberg, ferner als Teilnahme am Kulturfestival .Quattrologe. 1995 und 1997 im russischen Sotschi am Schwarzen Meer. Seit Dezember 1997 arbeitet REUTTER in einer neuen Werkstatt, der ein Ausstellungsraum angeschlosssen ist . und zwar in der Kleinfeldstraße 50, gehen sie mal hin!!

Um es programmatisch vorwegzunehmen: Seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit verwirklicht Gerd Reutter auf subtile Weise seine Vorstellungen von Vitalität und Raum durch die Kombination vegetabiler - d.h. weicher - und insbesondere konstruktiver - d.h. harter - Formelemente in eindrucksvollen, oft an Architekturen erinnernden Tongebilden. Seit 1996 - dem Jahr, mit dem die Ausstellung hier im Keller einsetzt - bereichert REUTTER sein Formenrepertoire um anthropomorphe Elemente, wie etwa vertikal angeordnete Wirbelstränge.

Und diese Kombination konstruktiver, vegetabiler und anthropomorpher Formelemente sowie der Dialog zwischen ihnen bewirkt einen erheblichen Teil der Gestaltungslust REUTTERS. Hinzu kommt eine für den Betrachter spürbare zusätzliche Dialektik zwischen dem Innen- und dem Außenraum, die seine Skulpturen spannend machen.

Der weiteren Betrachtung seines Werkes vorausschicken möchte ich Hinweise auf den technischen Prozeß der Entstehung der Tonskulpturen, so, wie er für Gerd Reutter von Belang ist. Er bevorzugt Tonerde von körniger Grundsubstanz, weil sich daraus von vornherein interessante Eigenstrukturen der Oberfläche ergeben. Gelegentlich werden diese materialbedingten Strukturen durch solche des Arbeitsprozesses .zufällig. bereichert: Beim Abtrocknen des Tons können Schwundrisse auftreten, die Reutter souverän in seine künstlerische Konzeption integriert.

Der Ton liegt in den Grundfarben Rot, Gelb und Grau vor, was jedoch nur bedingt aussagefähig ist, da Reutter die meisten seiner Arbeiten farbig faßt. Sehr viel interessanter ist, daß der Künstler seine Skulpturen richtiggehend baut. Er setzt sie aus flachen oder gerollten Elementen zusammen, verfugt flache Elemente durch Zahnschnitt - wie bei Holzarbeiten gängig -, stützt die entstehenden Hohlkörper

durch eingezogene Tonplatten ab und füllt bzw. glättet die Fugen mit Schlicker, das ist breiig angerührter Ton.

Nach Fertigstellung der Skulptur trocknet sie etwa eine Woche und wird dann bei 900º C gebrannt. Anschließend wird eine erste farbige Fassung mit flüssigem Ton

- genannt Engobe - angelegt und bei 1.200º gebrannt. Danach wird das Produkt überprüft und für gut befunden oder noch einmal - z.B. bei Farbkorrekturen - mit

Engobe überarbeitet und wiederum gebrannt.

Im Gegensatz zur Praxis, die eigenen Kunstobjekte nicht zu benennen oder lediglich mit Bezeichnungen zu belegen, die eine Identifizierung erleichtern, wählt Gerd Reutter seit 1992 . 1991 noch waren seine Arbeiten .ohne Titel. . in der Tat Be-nennungen, die auf assoziativer Ebene ansprechen: Sie entstehen - dem nüchternen, aber durchaus humorvollen Temperament ihres Herstellers gemäß - nach

Abschluß des Werkprozesses, inspiriert durch ihr tatsächliches Erscheinungsbild.

Und dieses Erscheinungsbild hat es in sich! Gerd Reutter operiert souverän mit seinen flachen und gerollten Elementen aus Ton, er setzt sie zu außerordentlich phantasievollen, manchmal sogar phantastisch anmutenden Konstruktionen zusammen, die eines verbindet: ihre strenge, gelegentlich fast spröde Tektonik. Dabei reicht die Bandbreite von ganz offenen zu hermetisch geschlossenen Formen, von geradezu auseinanderfallenden, nach außen orientierten Raumfragmenten zu extrem abgekapselten, komplexen Innenräumen. Und allen gemein ist ihre Vitalität, die vom Konstruktiven bis zum Destruktiven reicht, die zusammenfügt und zerlegt.

An einigen wenigen Beispielen möge das Dargelegte verdeutlicht werden:

In der geradezu klassischen Arbeit .EINSTIEG / AUSSTIEG. von 1997 [-HIN-WEIS-] wird hinter einem aus drei mächtigen zylindrischen Säulen gebildeten Tor der Blick auf eine emporsteigende Treppe freigegeben, die auf der linken Seite von einer Art Wall, auf der rechten eher von einer kleinen Stützmauer gefaßt ist. Optisch geht man geradezu auf ein monumentales Kultensemble wie Stonehenge zu, aber dann kommt der Bruch. Dieses Objekt hat eine Höhe von 32 Zentimetern und ist zudem von oben offen. Man kann es sozusagen domestizieren, ganz kühl optisch abgreifen, von .oben. betrachten, und dann kann man - rein virtuell - auch von oben einsteigen und die Treppe herabschreiten. Die Ambivalenz zwischen imposanter Monumentalität und vertrauter Dimensionalität beherrscht Reutter wie kaum ein zweiter Plastiker, der mit architektonischen Metaphern arbeitet.

In der in Schwarz und Weiß gefaßten Skulptur .ARBEITS LOS. von 1997 [-HINWEIS-] sind zwei Prinzipien dualisiert . das der Bewegung, symbolisiert durch ein Zahnrad, und das der Beharrung, ausgedrückt durch zwei schrägstehende, wie in der Bewegung mitgerissene und zum Stillstand gekommene Tonplatten. Das Dynamisch-Runde kontrastiert mit dem - wie eine Bremse wirkende - Blockierend-Weißen, das Dunkle bewegt sich unauffällig, das Weiße hält sichtlich auf. Ein Ablauf ist zum Stillstand gebracht worden, und der Künstler hat es überzeugend sinnfällig gestaltet.

.Versuche. von 1997/98 [-HINWEIS-] geht auf die im Katalog abgebildete Arbeit .TON-WELLEN. von 1996 zurück. Die imposante Wandskulptur . mit 180 Zentimetern Durchmesser das bisher zweitgrößte Objekt im Werk des Künstlers und in seiner Dimension durchaus von diesem Raum inspiriert . assoziiert beim Betrachter die Form eines Sonnenrads. Von der dezentral und deutlich erhöht gesetzten Nabe des Rades laufen - wie breite Speichen - braune Stränge sowie ferner rötliche Segmente in Richtung des Außenrunds. Ebenfalls von der Nabe ausgehend berühren zwei Stahlstangen den Boden. Sie wirken wie materiegewordene Energiestrahlen, die von einem Planeten zur Erde laufen.

Bei .MAHN-WACHE. von 1996 [-HINWEIS-] wirkt die in ein Stützgestell einkomponierte Form organisch und beweglich. .Frühe Kinderzeichnungen sind uns zu präsent. - schreibt Thomas Köllhofer in seinem Katalogtext -, .als daß wir einen Kreis auf einem vertikalen Balken nicht zwangsläufig mit .Mensch. assoziieren würden.. [ZITATENDE] . Die Vertikale in dieser Skulptur ist ein Wirbelstrang, seine Bekrönung hat die Form eines beidseitig nach außen sich wölbenden Schaufelblatts und wirkt wie ein sanft konvexer, archaischer Kopf. Das Ganze hat den Charakter einer Kultfigur, eines Idols.

1997/98 hat Gerd Reutter eben diese Figur in 3facher Vergrößerung bis auf 255 cm Höhe als Kombination aus künstlich leicht gerostetem Stahl und gebranntem Ton konzipiert . seine bisher monumentalste Skulptur. [-HINWEIS auf FIGUR / UNVOLLSTÄNDIGKEIT-]. Die Veränderung von Proportion und Material gibt       dieser Großskulptur etwas Kühles, Starres, zugleich Erhabenes, etwas, das an indianische Totems erinnert: Der Künstler hat dieser Figur konsequent die Bezeichnung .WÄCHTER. gegeben.

Soviel zu den Formen. Gerd Reutter reichen - meine sehr verehrten Damen und Herren - wenig spektakuläre Farben, um seine Arbeiten zu fassen, es sind vor allem WEISS, SCHWARZ, ROT und GELB. Gemäß des um 490 vor Chr. geborenen griechischen Philosophen EMPEDOKLES entsprächen sie exakt den .Wurzeln aller Dinge., also den 4 Elementen: WEISS für LUFT, SCHWARZ für ERDE, ROT für FEUER und GELB für WASSER.

Das mag weit hergeholt klingen, aber die instinktive Wahl .antiker. Farben in be-

stimmten Kunstbereichen belegt die Kongruenz künstlerischer Ideen und Werkprozesse über große Zeiträume.

Reutter - das sei resümierend konstatiert - ehrt dieses nur vordergründig leicht verfügbare, scheinbar beliebig formbare Material Ton, indem er die ihm immanenten Eigenschaften durch seine eigenwillige künstlerische Energie und durch seine Menschlichkeit  sichtbar macht, die Summe also so unterschiedlicher Anlagen wie weich und hart, aggressiv und einladend, geschlossen und offen.

Werner Marx bringt es im Katalog zu dieser Ausstellung auf den Punkt, wenn er

sagt -ZITAT-: .Diese Skulpturen sind von großem Reichtum . als Formulierungen plastischer Anliegen zwischen Form und Farbe, zwischen raumgreifender und raumverdrängender Präsenz, zwischen spröder, profaner und kostbarer Materialbeschaffenheit, zwischen sakraler Entrücktheit und taktilem Oberflächenreiz, aber auch als narrativ eloquente Werke, die von der Verbindlichkeit vergangener Kulturen sprechen.              

                                                                                     (Schlußworte.) // 16.5.1998 Kj.

Bildbeschreibung Katalog 1996 - 1998

Dr. Jochen Kronjäger Kunsthalle Mannheim

EINSTIEG/AUSSTIEG    (Link zu Portlolio 1994-1997)

Hinter einem aus drei mächtigen zylindrischen Säulen gebildeten Tor wird der Blick auf eine emporsteigende Treppe freigegeben, die auf der linken Seite von einer Art Wall, auf der rechten eher von einer kleinen Stützmauer gefaßt ist. Optisch geht man geradezu auf ein monumentales Kultensemble wie Stonehenge zu, aber dann kommt der Bruch: Diese Objekt hat eine Höhe von 32 Zentimetern und ist zudem von oben offen. Man kann es sozusagen domestizieren, ganz kühl optisch abgreifen, von oben betrachten, und dann kann man - rein virtuell - auch von oben einsteigen und die Treppe herabschreiten. Die Ambivalenz zwischen imposanter Monumentalität und vertrauter Dimensionalität beherrscht Reutter wie kaum ein zweiter Plastiker, der mit architektonischen Metaphern arbeitet.

JK

Bildbeschreibung Katalog 1996 

Dr. Jochen Kronjäger Kunsthalle Mannheim

Bau-Stein

Ein schmaler, hochoblonger Raum wird umstellt von einem Pfeiler, einem Stück Wand, einer Säule, einer schmalen Platte und einem Bogen. Die einzelnen Elemente sind unterschiedlich hoch, die weit aufragende Säule und der Pfeiler tragen ein kleines Dach, über das - in Fortführung des Pfeilers - eine flache, im Profil gezeigte Kopfform hinauskragt. Die Plastik ist ein Agglomerat von - in der jeweiligen Grundform - runden, quadratischen, flachen und gebogenen Bauelementen, wie wir sie aus den Baukästen unserer Jugendzeit kennen. Gerd Reutter geht noch einen Schritt weiter; Mit der dieses Konstrukt dominierenden anthropomorphen Kopfform verweist er indirekt auch auf Bausteine des Lebens.

JK 

 

Katalog 1996 - 1998

Bildbeschreibung

Dr:Thomas Köllhofer Kunsthalle Mannheim

1996 LEERE HÜLLE

 

Es erstaunt, daß zahlreiche Schöpfungsmythen mit der Formung des Menschen

aus Ton beginnen. Kaum ein Material ist so formbar und in der Vielfältigkeit seiner Bildsprache so frei wie der Ton.Weich und hart, rauh und glatt, porös und dicht; das Material paßt sich den Händen des Künstlers an. Bei „LEERE HÜLLE" bläht sich das massive Material zu einem Volumen füllenden Körper, der auf einer Seite aufbrechend, dem Blick sein Inneres preisgibt. Außen krustig verhärtet mit trocken rauhen Spuren der Einwirkungen,-zeigt sich das Innere dagegen in zartem Ton mit weichen Dellen. Die Farbigkeit und die vielfältige Oberflächenstruktur lassen ein nuancenreiches Lichtspiel entstehen, das derart das Volumen des Körpers plastisch erleben läßt.

Thomas Köllhofer Kunsthalle Mannheim

 

1997 UNENDLICH (Link Portfolio 1994-1997)

Aus einer zähen, undefinierbaren Masse, die den Boden einer Schale füllt, ragt ein Gebilde aus schachtelförmig ineinandergefügten Rohrsegmenten, die sich verjüngen und unweigerlich an ein Fernrohr erinnern. Doch hier streckt sich dem Betrachter die weite Öffnung des Rohres entgegen. Das Objekt erwidert den Blick, denn der Betrachter kann nicht in das schmale Ende des Rohres schauen. Und folgt er seiner Betrachtung in die Tiefe des Rohres, so blickt er nicht in den Mikrokosmos jener unergründlichen Masse, denn das Ende des Rohres hat die Schlacke und auch die diese hinterfangende Schale durchbrochen. Am Ende des Blicktunnels erscheint ein kleiner Lichtschimmer. So ist es hier, wie bei der späteren Arbeit „BODENLOS", eher der Blick aus dem Mikrokosmos eines Gefäßes in die Welt außerhalb, von der wir jedoch kaum mehr als einen Lichtschimmer erahnen.

Thomas Köllhofer Kunsthalle Mannheim