Katalog Gerd Reutter
1991-1995
Tonskulpturen

Text: Werner Marx

Archetypyische Gebilde von monumentalem Charakter
Der Bildhauer Gerd Reutter

Kommt die Rede auf keramische Plastik, fängt sehr oft das Wehklagen an. Künstler, die von der Keramik herkommen, beklagen, daß seitens der bildenden Kunst Arroganz den Blick verstellt. Die alte Trennung von „freien" und „angewandten" Künsten bestehe immer noch und den keramischen Werkstoffen hafte nach wie vor der Hautgout der Minderwertigkeit an. Gabi Dewald, die Chefredakteurin der Zeitschrift Keramik-Magazin, spricht in diesem Zusammenhang gar von „Gottes zweiter Garnitur" und berichtet von einem aberwitzigen Projekt in den Niederlanden, wo versucht wird, junge Künstler an das Arbeiten in Ton heranzuführen.

„Am Europäischen Keramischen Werkzentrum in s`Hertogenbosch versucht man das Pferd von hinten aufzuzäumen; in dem hervorragend ausgerüsteten Institut vergibt man Stipendien an Keramiker, lädt jedoch ebenfalls gezielt Künstler dazu ein, Projekte in Ton zu realisieren. Die Gäste müssen kein Vorwissen mitbringen; Ein Stab von Assistenten, übersichtliche Laboratorien, die Katalogisierung von Massen und Glasuren und vom Computer gesteuerte Brandverläufe sollen die mangelnden Erfahrungen mit technologischen Finessen ersetzen, deren empirischer Erwerb Jahrzehnte dauern kann. Interessanterweise wird gerade diese zeitraubende Bindung an die Technologie unter Keramikern gern zur Begründung gewisser Retardationen angegeben und soll den Mangel an innerer Freiheit der Entwürfe entschuldigen. Doch schaut man durch die Bilddatei des erwähnten Keramikzentrums, ermüdet das Auge; Hier wird eben aus Ton Kunst gemacht. Doch warum es gerade Keramik sein muß - das leuchtet nur in den seltenen Fällen ein."

Die Arbeiten Gerd Reutters sind der beste Beweis, daß eine wie auch immer geartete technologische Aufrüstung gar nicht nötig ist, um sich dem Werkstoff Ton zu nähern. Erst seit 1991 arbeitet Reutter ausschließlich in Ton, vertraut auf intuitive „Handarbeit" und hat einzig durch die direkte Auseinandersetzung gelernt, eine Beziehung von Idee und Material herzustellen. Für ihn gibt es stringent werkimmanente Gründe, Objekte aus Keramik zu machen und seine Arbeiten, die mehr durch ihr künstlerische Haltung als durch einen einheitlichen Stil miteinander verbunden sind, überraschen durch ihr unerschöpfliches Formenreservoir. Reutter stellt nichtfigürliche Plastiken, freie Skulpturen her, die direkt an den Werkstoff Ton gebunden sind und keinerlei Wiederholungen kennen

Der den Plastiken zugrundeliegende Denkansatz wird oft im Architektonischen angesiedelt, und viele Titel nehmen auch Bezug auf Gebautes. Als reine Modelle für Architekturen oder Bühnenlandschaften wollen sie allerdings nicht erscheinen. Reutter schafft nicht in mimetischer Absicht und produziert keine Architekturzitate. Wenn auch in vielen Werken der Bezug zur Architektur eng ist, so handelt es sich ausnahmslos um autonome Skulpturen, um funktionslose, absolute Formen im Raum, oft archetypische Gebilde von monumentalem Charakter. Die Verwandlungsfähigkeit und Mehrdeutigkeit, die in ihnen steckt und vom Betrachter entfaltet werden kann, ist dabei nicht in einer vagen, unbestimmten Intention begründet, die vornherein auf magisch symbolische Wirkungen spekuliert; vielmehr wird sie durch einen reflektierten Werkentwurf ermöglicht, der zunächst der Evidenz der Konstruktionsgesetze und der prägnanten Artikulation der Plastiken im Raum Priorität einräumt. Gegenständliches und Ungegenständliches, Zweckfreies und - gebundenes befinden sich in einem Wechselspiel. Architektur und freie abstrakte Plastik werden so zu den beiden entgegengesetzten Bezugsystemen. Gerd Reutter baut jede Plastik in vielen kleinen Einzelstücken auf, wobei alle nur möglichen Formen der Abstraktion in ein skulpturales Miteinander eingebunden werden. So entsteht ein differenziertes Gefüge, das wie aus einem Guß wirkt und doch die ganze Kompläxität des plastischen Aufbaus in sich birgt. Durch den Verzicht auf jede Hervorhebung herrscht zwischen den Teilen ein Gleichgewicht von Ruhe und Bewegung, von Geschlossenheit und Sich-Öffnen. In seiner Skulpturensprache wird das Umkreisende wie Durchbrochene, das Großteilige wie das Kleinteilige in den Diagonalraum gestellt. Reutter arbeitet größere Harmonie aus, indem er das Gegensätzliche ineinander bindet. Die Plastiken provozieren ein Kräftespiel; Spannungen und Energien, also Möglichkeiten prinzipieller Art bildnerischen Denkens. Reutter liebt den offenen Bereich, jenen Raum, der aus der unmittelbaren Geschicklichkeit der Hände und des Gedankens entstehen kann, und viele seiner Plastiken erweisen sich als spontan ausbalancierte equilibristisch entworfene Objekte. Den unmittelbaren Durchdringungen des Raumes durch schmale, fast informelle Gestiksteht die Gedanklichkeit des Konstrukts entgegen, das mühsame Einwirken, welches notwendig ist, um die Erkenntnis des Raumes durch das Artefakt zu artikulieren.

Es gibt noch ein ganz besonderes Problem, und jeder Künstler, der mit Ton arbeitet, ist mit ihm konfrontiert. Die Öfen nämlich, in denen die Arbeiten erst dauerhaft und zugleich so zerbrechlich gemacht werden, besitzen nur sehr begrenzte Kapazität. Man kann keine monumentalen Stücke herstellen. Ausmaße von etwa einem Meter im Kubik bleiben vorerst das höchste der Gefühle. Da diese Bedingungen auch für Gerd Reutter gelten, heißt das: Er produziert klassische Kleinplastiken. Aber auch in der Kunst des Kleinen - und gerade in ihr wegen der Gefahr der Verniedlichung - gilt:" Bei jedem Kunstwerk, groß oder klein, bis ins Kleinste kommt alles auf die Konzeption an", wie Goethe in den Maximen und Reflexionen bemerkt hat, wo er zudem notierte: „Das kleinste Haar wirft seinen Schatten."

Man übersieht leicht, daß die genuinen Kleinplastiken Reutters zwar Welten für sich und Modelle der Welt im Kleinen sind, nicht aber Modelle im Sinne der einer vergrößernden Ausführung harrenden Architekturmodelle oder der verkleinerten Abbildungen der Erde oder des Sternenhimmels im kartographischen Atlas oder im Globus. Wie eindrucksvoll diese Modelle allesamt auch immer sein mögen, letztendlich verweisen sie auf die vorbildlichen „Originale" . Bei der kleinen, aber feinen Kunst, die hier gemeint ist, handelt es sich, wird ihr Anspruch eingelöst, um Denk - und Anschauungsmodelle, die so, wie sie sind, sich selbst genügen. Kleinheit eignet den Reutterschen Plastiken wesentlich, ist ihr Eigenmaß, nach Maßgabe der Dinge und Verhältnisse, die sie in Szene setzt. Kleinformat-Kunst ist, auch dies eine Eigentümlichkeit, entschieden Kunst nach Augen-Maß, kaum nach menschlichem Körpermaß. Nur dem Auge zugänglich ist der Zugriff auf Reutters Plastiken so primär geistigmentaler Natur.

Die Arbeiten sind nicht an spezielle Räumlichkeiten gebunden, behaupten sich in Museumsräumen ebenso wie in Gewölbekellern und können auf einem Sockel oder einem Möbelstück stehen. Die Sockel-Präsentation ist immer noch die gelungenste, da sie Gelegenheit zum Drumherumgehen gibt, aber mehr noch Garant für eine „ernsthafte" Wahrnehmung der künstlerischen Arbeit ist. Der Sockel verhindert, daß die Kleinplastiken als niedliche Petitesse oder als dekoratives Schmuckstück angesehen werden, sie rücken auf Augenhöhe und setzen sich der direkten Examination des Betrachters aus. Dabei treten die konstruktivistischen Elemente, tritt der Aufbau der Arbeit klarer zutage, wird ein Plus an Überblick erreicht.

Reutter ist ein Plastiker, der mit Maßen maximierend umgeht, der aufbauend denkt, auch im übertragenen Sinne, dessen Plastik aufzeigen will, Grundprobleme darstellt. Bei vielen architektonisch anmutenden Plastiken fällt eine torsohafte Gesamterscheinung auf. Die durchbrochenen Flächen geben ihre Monumentalität preis, gewinnen für das Auge erfaßbare Räumlichkeit. Das Durchschauen der zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit ist dann ein intellektueller Akt, das Durchschauen der Räumlichkeit ein visuellsinnliches Vergnügen. Zur äußeren Form treten ohne Pathos und Sentimentalität subtil spröte Oberflächen und manchmal sogar ein Höchstmaß an Fragilität. Über die Monumente der Dauer legen sich, durch die Oberflächenbehandlung des Materials verstärkt, Spuren von Zeit und Vergänglichkeit. Reutter flieht nicht in die Rethorik der Ikonographie, benutzt aber die Dreidimensionalität der Oberfläche als malerische Möglichkeit ohne illusionären Charakter. Dabei ist er so hermetisch in seiner Kunst, ein fast manieristisches Kunstprinzip, wie offen, auf Erklärung ausgerichtet. Bei Gerd Reutter ist Ehrlichkeit ein Anliegen, das er jenseits von Künstlichkeit ansiedelt.

Werner Marx