Katalog Gerd Reutter
1991-1994
Tonskulpturen

Einführung: Dr. Ekkart Klinge
Düsseldorf, Hetjens-Museum

Meisterwerke - nicht nur der europäischen Kultur wurden von Menschen in Ton gestaltet. Aus diesem weichen, bildsamen Material sind uns Skulpturen von der Zeit an überliefert, seit der Mensch gelernt hatte, das jedem Fingerdruck nachgebende Material durch einen Brand in einen festen, dauerhaften Zustand zu verwandeln.

Allgemeiner bekannt sind die bis zu lebensgroßen aus Ton hergestellten Skulpturen der Zeit um 1400 und aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts aus Augsburg, in Bayern oder Nürnberg wie die dort geschaffenen, zu Recht berühmten Nürnberger Apostelfiguren. Von großer Frische, Lebendigkeit und Spontanität zeugen die Tonbozetti des 18. Jahrhunderts, die eine erste Vorstellung eines bildhauerischen Thema skizzenhaft festlegen. Zu dem Besten, was die europäische Plastik in der Mitte des 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, gehören die Werke in Porzellan von Kändler und Bustelli. Berühmt sind die chinesischen Grabfiguren der Han-Zeit in ihrer außerordentlichen thematischen Fülle und dem genreartigen Charakter, ebenso wie die meist mehrfarbigen glasierten, in der Bewegung eindrucksvoll gestalteten Skulpturen der Tang-Zeit. Unsere Vorstellung von den mittel- und südamerikanischen Kulturen wären wesentlich reduziert, hätten nicht zahlreiche Tonbildwerke die Unbill der Zeit überdauert, und einige der tönernen Gestalten, die noch heute auf ihren Sarkophagdeckeln ruhen, gehören mit zu den herausragenden Werken etruskischen Kunstschaffens.

In Europa verschwand mit dem Ausgang des Rokokos das Interesse an dem Werkstoff Ton für skulpturales Arbeiten. Zunächst war es der Marmor, der auch Holz und andere Materialien verdrängte. Zum Skizzieren in dreidimensionaler Form begann man den leichter verarbeitbaren Gips vorzuziehen, der für die großen bildhauerischen Aufgaben, die das 19. Jahrhundert vergab nun zunächst als Grund- und Ausgangsmaterial diente, bis die endgültige Fassung in Bronze gegossen wurde.

Das Material Bronze hat nicht nur die Vorstellungen von Skulpturen im 19. Jahrhundert geprägt, noch heute - am Ende des 20. Jahrhunderts - bildet es eine der westlichen Grundlagen, die die allgemeine Anschauung über plastisches, dreidimensionales Gestalten bestimmt. Im Jugendstil wandten sich einige Künstler wieder der Tonplastik zu; in Skandinavien und Deutschland vor allem der Porzellanplastik, die in Manufakturen bis in die 1920er und 30er Jahre gepflegt wurde. Ein besonderes, neues Verhältnis zum gestalteten Material entstand allgemein am Anfang des 20. Jahrhunderts etwa durch die von den Kubisten entwickelten Collagen oder durch die besondere Behandlung des Holzes von expressionistischen Bildhauern, vor allem von E.L. Kirchner. In der Keramik war man diesen neuen Strömungen besonders in Italien aufgeschlossen, wo man - zwar mit Unterbrechung - sei Medrado Rosso eine dichte Tradition besaß.

Um 1960 begann in den USA und davon beeinflußt in Japan, ebenso wie in den westeuropäischen Ländern, - teils mit gewisser Verzögerung - ein erneutes Interesse an keramischer Plastik. Man befreite sich almählich vom Zwang der Drehscheibe, vom Gefäß, von der kultivierten Glasur und wandte sich in verstärktem Maße bildhauerischen Aufgaben zu.

Unverständlich bleibt, daß diese breite, bereits über 30 Jahre alte Entwicklung, der wir hervorragende Kunstwerke verdanken, noch heute nicht anerkannt wird, ja man tut so, als würde dieses Gebiet künstlerischen Gestaltens nicht existieren. Die sogenannte frei Kunst hat sich selbst zwar viele Freiräume geschaffen, bedient sich in zunehmenden Maße sogar des keramischen Materials, ist aber wie deren Vertreter, Sammler, Hüter eifrig darauf bedacht, von außen nichts zuzulassen. Maler oder Bildhauer dürfen künstlerisch mit Ton umgehen, ihn verwenden, aber ein Keramiker, der mit diesem Rohstoff begonnen hat, künstlerisch zu arbeiten, wird von ihnen - völlig anachronistisch - nicht als ebenbürtig angesehen. Wurde eine gewisse Freiheit oder Unvoreingenommenheit im Verhältnis zum Ton durch die freie Kunst zwar stark gefördert, so ist die eigentliche Entdeckung der Aussagekraft des Tones doch den Keramikern zu verdanken.

Die Ausdruckskraft des Werkstoffs in seinen äußerst verschiedenen Eigenschaften, Oberfläche, Strukturen bietet eine Fülle von Möglichkeiten, die künstlerisch für den jeweilig angestrebten Ausdrucksbereich eingesetzt werden. Dies hat nichts zu tun mit vordergründiger „Materialgerechtigkeit", sondern der Ton bzw. jeweils eine seiner verschiedenen Beschaffenheiten wird für das betreffende Thema als Träger der Aussage, der Stimmung und Empfindung so verwendet, daß bereits vom Material her für die Skulptur neue Darstellungsweisen gewonnen werden. Die Themen, Vorstellungen, Ziele finden sich auch in anderen Sparten bildender Kunst .Durch die wechselseitige Durchdringung von Material und Thema ebenso wie durch die künstlerisch e Gestaltung erhalten sie ihre besondere Bedeutung und Aussagekraft.

Dr. Ekkart Klinge